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Berliner Morgenpost, Aufführung 08. April 1979

Don Carlos

Der Maestro bildet mit sich selbst ein Team

Herbert von Karajan und die Berliner Philharmoniker eröffneten die Salzburger Osterfestspiele


Salzburgs vorösterliche Anziehungskraft, getrübt durch Schneestürme, Regenschauer und das allgemein grassierende Mißbehagen an einer allzu reprisenseligen Programmkonzeption, ist von heute auf morgen wieder in Herrlichkeit hergestellt. Vom blauen, wolkenlosen Himmel strahlt die Sonne auf die Burg, die Kuppeln, die Plätze und Gassen der gelassen hingebetteten Stadt. Aus tropfnassen Fiakern von gestern sind breit aufgeschlagene Kaleschen geworden, weitläufig dahinrädernd wieder und heiter. Salzburg zeigt sich, als sei es über Nacht mit sich zu Rate gegangen, plötzlich wieder von seiner liebenswertesten Seite.

 

Die Testspiele begannen heuer eher griesgrämig, reserviert, vor einem Publikum, das zunächst einmal neu erobert sein wollte.

 

Das Eröffnungskonzert des Berliner Philharmonischen Orchesters unter Herbert von Karajan mit Beethovens „Missa Solemnis“ fand denn auch für Salzburgs sonst zum Jubel neigende Verhältnisse ein eher gedämpftes Echo.

 

Karajans Salzburger Osterfestspiele, einst hochgemut begründet und mit künstlerischen Sensationen nicht sparend, sind zu einer Abspielstätte der exquisiten Herkömmlichkeit herabgekommen. Das Hauptwerk des Programms, Verdis "Don Carlos“ hatte schließlich schon seit Jahren auf dem Salzburger Sommerfestspielprogramm gestanden und wurde diesmal nur für zwei weitere Aufführungen aus der Opern-Garage geholt.

 

Das soll im kommenden Jahr wieder anders werden. Dann steht endlich der lange angekündigte "Parsifal“ Wagners ins Salzburger Festspielhaus. Aber auch ohne diese Novität im nächsten Osterprogramm kann man dem Festival und Karajan, seinem Direktor, Respekt und Bewunderung nicht versagen. Er, schließlich, trägt die zehntägige Festivität mit ihren acht kolossalen Aufführungen ganz allein: als Dirigent Regisseur künstlerischer Direktor, Fernsehstar, Gesamtleiter.

 

Die Konzentration, diese äußerste Willensleistung ist es denn auch, die sich das Publikum am Ende immer erneut unterwirft mit Aufführungen voll visionärer Gewalt und Ökonomie. Nichts wird in ihnen verschleudert, alles wie durch ein Wunder zur höchsten Reife, Anschaulichkeit und Schönheit gebracht

 

In dieser Arbeitsleistung kommt dem jetzt über 70jährigen kein anderer gleich. An drei Tagen hintereinander die "Missa“ Beethovens, Verdis „Don Carlos“ die „Siebte“ Bruckners aufzuführen, das sind drei Herausforderungen des in größten Dimensionen disponierenden musikalischen Ordnungssinns.

 

Wie die Berliner Philharmoniker unter Karajan die "Missa Solemnis“ spielten, glich einer Vermählung von mystischer Klangschönheit mit kompositorischem Wirklichkeitssinn. Beethoven. "Missa", aufgeführt durch den Wiener Singverein und ein erstklassiges, belkantistisch geschultes Solistenquartett, sprengte dem zerklüfteten kontrapunktischen Geist des Nordens den Weg in die benedeienden musikalischen Ebenen des Südens frei. Verdi grüßte gewissermaßen schon in die "Missa Solemnis“ herüber — ein Erlebnis, wie es früher in Salzburg zu erzielen wohl nur Toscanini gegeben war.

 

Am nächsten Tage dann Verdi in Person mit seinem „Don Carlos“ in der herkömmlichen vieraktigen Fassung, ohne Berücksichtigung der „Don Carlos“-Archäologie, die in den letzten Jahren erschreckend fündig geworden ist und die Spieldauer des Werkes inzwischen auf fast fünf Stunden verlängert hat. Karajan macht den musikhistorischen Gründlichkeitswahn nicht mit. Sein Theatersinn begnügt sich mit der eingestrichenen Version, wie sie den Bühnen der Welt seit langem geläufig ist — und in ihr läßt er sein Orchester die Hauptrolle spielen.

 

Das Vokalensemble kann mit den Philharmonikern schritthalten. Freni, Ghiaurov, Carreras, Cappuccilli zeigen sich, wenn auch anfangs zurückhaltend, in verläßlicher Form. Den Vogel aber schießt Agnes Baltsa als Eboli ab. Ihre große Szene und Arie werden zu einem Gefühlsrausch, der bis an die Grenze des Kollabierens vorgetrieben scheint. Eine musikdramatische Leistung größten Stils, wie sie nur von Maria Callas erinnerlich ist.

 

Klaus Geitel