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Berliner Morgenpost

Karajans konzertante “Tosca” als Jahrhundert-Ereignis

Philharmonie:     Das Publikum folgte gebannt

 

Ein Jahrhundertkonzert. Eine “Tosca” ganz aus Musik. In der Philharmonie rührte Herbert von Karajan mit dem Philharmonischen Orchester Puccinis Oper konzertant auf: Ein auf den ersten Blick geradezu verquer anmutender Plan. Denn an “Tosca”-Aufführungen war ja in deutschen wie ausländischen Opernhäusern noch niemals Mangel.

 

Ausgerechnet also Puccinis Kulissenreißer nackt und bloß, ohne Dekor aufzuführen, schien eine hochkarätige Überflüssigkeit, noch dazu für teures Geld realisiert und für teures Geld (bei Preisen bis zu 165 Mark) ausverkauft; doch das überraschenderweise selbst im kulturellen Knauser-Berlin in wenigen Stunden.

Schwierigkeiten über Schwierigkeiten allein schon mit dem Chor. Erst sollte er aus der Deutschen Oper in die Philharmonie herüberverpflichtet werden. Das scheiterte an den Vorbereitungen zum plötzlich anberaumten Kanzlerfest, dessen Proben mit denen Karajans kollidierten. Dann sollte ein bulgarischer Chor einfliegen. Der sagte im politischen Hickhack um das am Ende platzende Gastspiel der Philharmoniker in Sofia ab. Für ihn sprang der RIAS-Kammerchor ein.

 

Für den Folterschrei des gemarterten Cavaradossi hinter der Szene wurde eigens ein Schiller-Theater-Schauspieler engagiert. Die Kantate Toscas hinter der Bühne wurde von einer Stellvertreterin gesungen. Und unsichtbar hinter dem Podium der Philharmonie, im Musikerfoyer, feuerten Scarpias Soldaten ihre ohrenbetäubend mörderische Gewehrsalve ab. All das hätte zu mancher heimlicher Komik gereicht.

 

Doch alles kam anders. Unter Karajans Händen wuchs die Aufführung zur bedeutendsten hoch, die wohl dem Werk je beschieden war. Sie machte sogar die legendäre der Callas kuschen. Das Publikum folgte ihr wie gebannt. Kein Szenenbeifall, nicht einmal nach Toscas berühmter Arie, wagte den Fluß der Aufführung zu unterbrechen. Erst nach dem letzten Takt löste sich die Spannung in einzigartigem, selbst in der Philharmonie selten gehörtem Jubel. Karajan hatte nicht seine Schallplatte reproduziert, sondern etwas unvergleichlich Neues geschaffen:

Eine in jedem Takt stimmige, vor Musikalität vibrierende Aufführung von höchster Lebendigkeit. Die Wiedergeburt der Tragödie einzig aus dem Geist der Musik.

 

Sie war gleichzeitig von einer visuellen Gewalt, wie sie bislang keine Bühnenaufführung erreichte. Einziger Hauptdarsteller war die Musik, von den Philharmonikern nun allerdings mit einer ungeheuren Meisterschaft vorgetragen.

 

Endlich einmal wurde nicht nur hörbar, sondern auch ansichtig, wie das Orchester zu spielen weiß: mit einem musikdramatischen Verständnis sondergleichen, gewonnen aus musikalisch genauer Akzentuierung und einer Phrasierung von unvergleichlicher Spielkultur.

 

Unversehens entstand auf dem Konzertpodium eine “Fernsehoper” ganz neuen Stils, gereinigt von allen Klischees, unverschminkt, bestürzend modern in ihrer Darlegung aller musikalischen Fakten. Gleichzeitig aber deklassierte Karajan die Experimentatoren des sogenannten neuen Musiktheaters zu Scharlatanen, die man in Zukunft vergessen kann.

 

Karajan, mit wachsendem Alter offenbar einschwingend in eine ganz neue Schaffensperiode, hat mit seiner konzertanten “Tosca”Aufführung in vieler Hinsicht einen Markstein gesetzt. Zu wünschen wäre nur, daß er seine Salzburger Produktionen regelmäßig konzertant auch in Berlin hören läßt.

 

Anzumerken bleibt noch am Schluß, daß Katja Ricciarelli wie José Carreras und Ruggiero Raimondi ihre Stimmen, von Karajan hingebungsvoll begleitet, strahlend in die einzigartige Musikalität der Aufführung einbrachten.

 
Klaus Geitel