Tagesspiegel Berlin |
Salzburger Realismus |
Karajans “Carmen”
konzertant in der Philharmonie |
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Kaum jemand war ein schärferer
Kritiker der sinnentleerten Vorführung virtuoser Gesangskünste in der Oper
als Georges Bizet, der einmal schrieb “Die Schule der Gurgeleien, der
Rouladen, der Lüge ist tot, ganz tot. Bestatten wir sie ohne Tränen. ohne
Bedauern, ohne Bewegung, und nun — vorwärts! Bizets Ziel war Wahrheit, war
Realismus. Begeistert griff er deshalb die Darstellung des Freiheitsdrangs
asozialer” Menschen in Mérimées “Carmen”-Novelle auf. Wie stark jedoch die
soziale Wirklichkeit andalusischer Fabrikarbeiterinnen auf dem Weg durch die
Kulturapparate gefiltert, wie sehr der Mechanismus der Ästhetisierung wirken
und so schließlich doch wieder der traditionelle Opernkulinarismus sich
durchsetzen würde, das konnte Bizet nicht ahnen. Karajans konzertante
“Carmen”-Aufführung in der Philharmonie bildete in mehrfacher Hinsicht einen
Gipfel der Ästhetisierung — in positiver wie in negativer Hinsicht. Das
Besondere, Neuartige gerade der “Carmen”, nämlich die realistische
Motivierung aller Gesänge aus der Handlung, der weitgehende Verzicht auf
traditionelle Opernarien, kommt in einer konzertanten Aufführung kaum zur
Geltung, um so weniger, wenn das Programmheft nicht einmal, wie bislang
üblich, die gesungenen Texte enthält. Da sich zudem gegen Karajans Willen die
Opernunsitte durchsetzte, sängerische Glanzleistungen durch Beifall sofort zu
honorieren — man stelle sich ähnliches bei einer “seriösen” Theateraufführung
vor! —verwandelte sich Bizets ‚Carmen zurück zur Nummernoper. Trotz solcher grundsätzlicher Einwände kam das Publikum bei
Eintrittspreisen bis 250 DM voll auf seine Kosten. Zu bewundern war die
Genauigkeit, in der das Philharmonische Orchester mit Konzertmeister Toru
Yasunaga Karajans sparsame Zeichengebung aufgriff und die Musik vom grellen
Volksfestlärm bis zu zarter kammermusikalischer Begleitung dynamisch
abstufte. Was Bizets bewußt vordergründig und direkt angelegte Musik, die
sich immer wieder an musikalische Alltagsgebräuche, an Stierkampfarena,
Militärmusik oder einfach das Vor-sich-Hinträllern anlehnt, durch Karajans
etwas starre Tempi an Lebendigkeit verlor, gewann sie an Brillianz durch die
Leuchtkraft der philharmonischen Orchesterfarben. Daß auch in der konzertanten
Aufführung, die mit Strichen und unter Verzicht auf die Dialoge auf der von
Öser editierten französischen Originalfassung beruhte, noch dramatischer Atem
spürbar war, verdankte man den herausragenden Solisten Agnes Baltsa und José
Carreras. Sie gaben mit höchster Intensität den so entgegengesetzten Figuren
der ungebundenen Zigeunerin Carmen und des in traditionellem Besitzdenken
befangenen Sergeanten Don José Charakter, beide mit geschmeidiger, zu extremen
Ausdrucksgegensätzen fähigen Stimmen. Besaß Agnes Baltsa schon vom ersten
Moment an trotzig-stolze Präsenz und in der “Habanera” und “Seguidilla”
verführerische Leichtigkeit, so steigerte sich José Carreras im Verlauf
seiner Leidenschaftsausbrüche besonders schön in der zwischen kraftvoll
auftrumpfendem Machismo und beschwörendem Piano schwankenden “Blumenarie”. Der Escamillo José van Dams und
vor allem die allzu schüchterne Micaëla Janet Perrys blieben demgegenüber
trotz stimmlicher Zuverlässigkeit etwas farblos. Homogenität und rhythmische
Leichtigkeit zeichnet dagegen die Ensemblesätze aus, an denen neben den
Solisten Graciela de Gyldenfeldt, Jane Berbie, Alexander Malta, Gille
Caichemaille, Michel Senechal und Heinz Zednik sowie den Schöneberger
Sängerknaben nicht zuletzt der Chor der Pariser Oper beteiligt war. Nach diesem festlichen
Konzertereignis, das einem zahlungskräftigen Berliner Publikum einen
Vorgeschmack auf die bevorstehenden Salzburger Oster- und Sommerfestspiele
gab, wollten die Ovationen nicht enden. Sie konzentrierten sich zunächst auf
Herbert von Karajan, in dessen schmerzverzerrtem Gesicht sich die enorme
Leistung widerspiegelte, die er sich seiner Konstitution zum Trotz an diesem
Abend abgerungen hatte, dann aber auf die Mitwirkenden, vor allem die
großartigen Sänger. |
Albrecht Dümling |