Morgenpost, Berlin - Aufführung 13. März 1985 |
Südliches
Klanggemälde von berauschender Schönheit |
Konzertante “Carmen” mit Herbert von Karajan |
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Ich beneide Bizet darum, daß er den Mut
zu dieser Sensibilität gehabt hat, die in der gebildeten Musik Europas bisher
noch keine Sprache hatte — zu dieser südlicheren, bräuneren, verbrannteren
Sensibilität . . wie die gelben Nachmittage ihres Glücks uns wohltun! Diese Worte Friedrich Nietzsches,
notiert, nachdem er zum 20. Male die Oper “Carmen” gehört hatte, bringen auch
ein ästhetisches Lebensprinzip zum Ausdruck. Herbert von Karajans späte Auseinandersetzung
gerade mit diesem Werk führt genau darauf hin. Ähnlich wie der alte — von ihm
übrigens sehr geschätzte — Sir Thomas Beecham, sieht offenbar auch Karajan in
“Carmen” die Möglichkeit zu einem Resümee ganz besonderer Art. Diese Oper lasse einem die Welt wie von
einem Berge aus überblicken, sagt Nietzsche weiter. Solch philosophische
Gelassenheit, geprägt aber auch von Lebensbejahung und kraftvoller Vitalität,
strahlte Karajans “Carmen” -Interpretation aus. Daß er sich der immensen Anstrengung,
der Tortur einer konzertanten Aufführung unterzog, spricht für sich. Mehr
noch die Art, wie er es tat. Gewiß bereitet Karajan das Gehen sichtlich Mühe.
Er schleppt sich haltsuchend zum Podium. Aber wenn er erst mal dort steht,
ist er wieder ganz der Alte. Über drei Stunden hinweg beherrschte er —
auswendig dirigierend wie stets — mit klarer, zwingender Zeichengebung das
Geschehen. Ein Triumph des Willens. Es wäre falsch, trotz des riesigen
Orchesteraufgebots und oft gewaltiger Klangdimensionen, Karajans “Carmeninterpretation”
als spät-romantisch-deutsch abzustempeln. Man hat ihm angesichts der
Platteneinspielungen, die dieser Aufführung gewissermaßen zu Grunde lag,
breitwandige Opulenz vorgeworfen. In der Philharmonie belehrte Karajan diese
Kritiker eines Besseren. Berauschend schön war der Klang der in
solcher Verfassung ohne Frage unübertrefflichen Philharmoniker. Die Dynamik
steigerte Karajan oft in extremste Bereiche. Andererseits ließ er mit
unerhört kammermusikalischer Raffinesse musizieren. Doch nichts von all dem
stand für sich. Karajan band die verschiedensten Ausdrucksdimensionen in eine
zugleich dramatische wie sinnliche Sicht der Partitur. Das Ensemble, das dieses höchste
Ansprüche stellende Konzept trug, ließ kaum Wünsche offen. Die wunderbar musikalisch,
vollkommen unpretentiös gesungene Carmen Agnes Baltsas spiegelte im Stolz, in
der Aggressivität dieser Figur auch deren Verwundbarkeit, eben ihre
Sensibilität. José van Dams Escamillo gab dem Torero ein beinahe zu
kultiviertes, gleichsam stimmlich geadeltes Profil. Obwohl die Stimme
Verschleißerscheinungen nicht verbergen kann, durch Forcieren zur Härte
neigt, verlieh Jose Carreras seinem Namensvetter äußerst dramatische
Intensität und zwingende Gestaltung ganz im Sinne Karajans. Die zart und innig gesungene Micaela
Janet Perrys litt ein wenig unter der Neigung der Sängerin zum Anschleifen
exponierter Töne. In den durchweg ausgezeichnet besetzten Nebenrollen
beeindruckte besonders das Schmugglerpaar Michel Senechals und Heinz Zedniks.
Der Chor der Pariser Oper steigerte sich nach sprödem Beginn zu
eindringlicher vokaler Schlagkraft. Nicht zu vergessen die anmutigen Stimmen
der Schöneberger Sängerknaben. Am Ende unbeschreiblicher und wohl auch
unübertrefflicher Jubel. |
Von WOLF ZUBE |