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Stuttgarter Nachrichten, Aufführung 28. August 1978

„Don Carlos“ als ausgereiftes Sängerfest

Karajan ist wieder da

 

Karajan ist wieder da — wie denn auch nicht in Salzburg, wo er doch alljährlich allgegenwärtig ist? Gemeint ist etwas anderes: die volle künstlerische Präsenz, die bei den jüngsten Osterfestspielen seltsam matt gewirkt hatte.

 

Wie rücksichtslos ließ er bei den Osterfestspielen die Berliner Philharmoniker im „Trovatore“ loslegen, die kostbarsten Stimmen „zudecken“, und wie sorgfältig modellierte er jetzt, im „Don Carlos“, die Linien und Klänge der Wiener Philharmoniker! Mit nicht geringerer Vehemenz in den großen dramatischen Ausbrüchen, aber dazu mit bestechender Sensibilität für das in dieser Partitur ganz neuartige, verfeinerte Kolorit Verdis, und vor allem für die Wirkungsmöglichkeiten der Sänger.

 

Das war wieder der alte Karajan. Der Maestrissimo des perfekten Schönklangs, aber auch der perfekt geplanten Verdi-Effekte. Damit ist nicht so sehr das pompöse Grand-Opéra-Finale des Autodafé gemeint wie die in unheimlich expressiven Dialoge König-Posa und König-Großinquisitor. Unvergeßlich auch, wie Karajan in der zeremoniellen Gartenszene durch Zurücknahme aller Stimmen, den Chor eingeschlossen, den Ton höfischer Konversation trifft und dennoch lauernde Spannung knistern läßt.

 

Schade, daß der Regisseur Karajan nicht über ähnliche Mittel der Differenzierung verfügt und sich im wesentlichen mit dekorativen Arrangements begnügt. Immerhin ist diese jetzt im vierten Jahr zu sehende Inszenierung ausgereift, von früheren Schlacken befreit, und ein Sängerfest ist sie heute mehr denn je.

 

José Carreras, fast ein neuer Gigli mit seinem instrumental ebenmäßigen Tenor-Belcanto, hat jetzt seinen berühmten Landsmann Domingo abgelöst, ohne in seinem Schatten zu bleiben; die Russin Elena Obrasztsova sprang als Eboli für die Cosotto ein und begeisterte, trotz einigen Problemen mit dem hohen B, durch das bezwingende Engagement ihres Singens; Nicolai Ghiaurov (Philipp), Mirella Freni (Elisabeth), Piero Cappuccilli (Posa) sind ohnehin Idealbesetzungen — noch, möchte man hinzufügen. Was diese großartige Don-Carlos-Konstellation desto kostbarer macht.

 

Kurt Honolka