Zum Inhalt/To index


 
 

 

Berliner Tagesspiegel, Aufführung 29. Juli 1978

Festwochen des Herzinfarkts

Salzburg zwischen “Jedermann” und “Don Giovanni”

 

Ausschnitt:

So auch im “Don Carlos, der zwar schon ein Festspiel-Veteran ist, den aber Karajan sowohl musikalisch als auch szenisch sichtlich aufgefrischt hat und noch weiter auffrischen wird. Er wird in Salzburg zu Ostern wiederkommen, sodann an die Wiener Staatsoper übersiedeln und schließlich im Fernsehen aufgezeichnet werden. Man merkt das Bemühen, hier gleichsam eine “Ausgabe letzter Hand" für die Gesammelten Werke im TV zu erarbeiten. Nach wie vor herrscht in dieser leidenschaftlich südlichen Oper das Gesetz des Dunkels, und die Autodafe-Szene ist zwischen Mauern eingeklemmt und vermag sich optisch kaum zu entfalten. Nicolai Ghiaurov bewährt sich nicht nur als der König Philipp zweier Kontinente, er hat auch bei aller Genauigkeit des musikalischen Details eine herrliche Freiheit der Gestaltung gewonnen. Mirella Freni war eine virtuos siegreiche Elisabeth. Als Eboli sprang in letzter Minute Elena Obraztsova ein, die Geheimwaffe aus Moskau, mit einer Stimme, die wie eine Orgel klingt, in der Höhe einmal ein wenig unsicher, aber wer will von der baritonal timbrierten Obraztsova schon Höhe hören? Der bestechende Glanz von José Carreras Tenor und die Wärme von Cappuccillis Posa zeigten, daß sich wahre Freundschaft auch im Duettsingen bewährt. Man hat vielleicht schon furchterregendere Großinquisitoren gehört als Jules Bastin, aber kaum eine süßere Stimme vom Himmel als diejenige Edita Gruberovas. Das Salzburger Luxuspublikum wars zufrieden. Man durfte ein “work in progress" bewundern, aus dem ein “Don Carlos” für die Nachwelt werden soll.

 

Otto F. Beer