Presse
Wien, Aufführung 2. Mai 1978 |
Gelöst und genießerisch |
Herbert von Karajan dirigiert in der Wiener Staatsoper Puccinis “Bohème” |
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Ein denkwürdiger Opernabend. Ein Abend, der alle
Aufregungen und Mißtöne rund um dieses Karajan-Gastspiel vergessen ließ; ein
Abend auch, der das alte, abgegriffene Wort vom “Wunder Karajan” wieder
einmal aktuell machte, Oper als lebendige Kunstform rehabilitierte: Karajans
“Bohème”. Karajans “Bohème”: Eine keineswegs zufällige
Formulierung. Und freilich mag es ein wenig seltsam sein, wenn in einer
italienischen Oper den Sängern nicht nur nicht der Primat der künstlerischen
Wirkung zukommt, sondern sie fast sekundär, austauschbar scheinen gegenüber
der vom Dirigentenpult ausgehenden, zwingenden Gestaltungskraft. Ganz
buchstäblich galt das diesmal für die Nebenrollen: Schaunard (Gianni Maffeo),
Collin (Paolo Washington), Benois (Claudio Giombi), Parpignol (Saverio
Porzano) hätte man aus hauseigenen Kräften durchwegs besser besetzen können.
Aber als Mitglieder eines offenbar eingespielten Ensembles nahm man sie
diesmal ebenso in Kauf, wie man gerne überhörte, daß José Carreras schon
jetzt deutliche Zeichen allzu raschen Verschleißes erkennen läßt, so
sympathisch jugendlich sein Rodolfo auch gespielt, so liebenswürdig und mit
viel Gespür für die Anmut und Zärtlichkeit der puccinesken Gesangslinie er
gesungen war. Auch daß Mirella Freni an sich in Spiel und Ausstrahlung immer
noch eine ungemein glaubhafte Mimi, einer gewissen Anlaufzeit bedurfte, bis
ihr Sopran zu den großen, leuchtenden Spitzentönen und Bögen aufblühte,
merkte man kaum; oder vergaß man rasch über ihrer ergreifenden, intensiven
Gestaltung namentlich im 3. und 4. Akt. Blieben als Idealbesetzungen Renate
Holms unglaublich frische, glaubhafte Musetta und Rolando Panerai, ein nobel
timbrierter, perfekt gesungener, liebenswerter Marcello. Karajans “Bohème‘ aber (um es zum drittenmal zu sagen)
schien mir diesmal, gegenüber allen seinen Wagner-, Verdi-, aber auch
Beethoven- und Bruckner-Interpretationen, den höchsten Rang seiner Kunst, das
Höchstmaß an Übereinstimmung von Komponist und Interpret zu signalisieren.
Und es kann durchaus sein, daß dieser Abend auch für ihn selbst und gemessen
an seinem Standard so etwas wie eine Sternstunde bedeutete. Karajan schien es
sichtlich — vielleicht auch als bewußten Kontrast zur von Berlin und
Salzburg her gewohnten orchestralen Disziplin — zu genießen, wie sensibel bis
in die feinsten dynamischen, agogischen und farblichen Nuancen hinein die
grandios aufspielenden Wiener Philharmoniker auf seine gelöste, zuweilen ungewohnt
spontan wirkende Zeichengebung eingingen, wie sie ebenso spontan
mitmusizierten. mitatmeten, mitfühlten. Das Resultat war ein von behutsamster
Zartheit bis zu mächtiger, aber nie brutaler Kraftentladung in tausend
Klangbrechungen aufgefächerter, Debussynaher Orchesterklang, waren melodische
Bögen in allen Varianten zwischen verhaltenster Innigkeit und
leidenschaftlichster Intensität. Und war insgesamt eine Spannung und Dichte,
die selbst die Sänger zuletzt halb benommen und wie in Trance vor den Vorhang
kommen ließ. Ein technisches Detail am Rande: Die unorthodoxe Orchesteraufstellung, mit den Holzbläsern vis-à-vis dem Dirigenten und dem gesamten Blech rechts, sollte schleunigst zum Standard erhoben werden, weil sie Homogenität und Zusammenspiel ganz unvergleichlich verbessert. Und was die “alte”, ewig junge Zeffirelli Inszenierung anlangt: Gott behüte, daß einmal jemand auf die Idee käme, sie wäre als allzu bejahrt auszutauschen. Auch sie ist nämlich, und keineswegs nur im rein Optischen, ein unwiederholbarer Glücksfall. |
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