Zum Inhalt/To index


 
 

 

Oper und Konzert, Aufführung 13. August 1977

Don Carlos

Großes Festspielhaus

 

Einen größeren Inszenierungsgegensatz als Rudolf Noeltes »Eugen Onegin« und Karajans “Don Carlos” kann man sich kaum vorstellen. Wird hier mehrmals geprobt worden sein, wie ein vom Publikum gar nicht zu sehender Chorist den rechten kleinen Finger wegspreizt, wenn er das Glas hebt bei Gremins Fest ... dann gibt es dort wenig mehr als dekoratives Arrangement, an Auftritte und Abgänge darf man keine übertriebene Logikansprüche stellen, das Gartenbild läßt glauben, Personen aus einem Velasques-Gemälde wären ihrem Rahmen entsprungen, diese “lebenden Bilder” sind symmetrisch nach der Überlegung geordnet: wo postiert sich ein Sänger akustisch am besten. Und siehe da, in dieser, nach NoelteBegriffen nicht-inszenierten Oper ereignet sich dramatisches Theater, an Wirkung Noelte‘schen Glanzmomenten durchaus ebenbürtig. Herbert von Karajan vertraut nämlich auf die Musik, der Stimme, der Gestaltungskraft seines Ensembles in dem Maße, wie Noelte ihnen mißtraut. Bei der Auseinandersetzung Philipp/Posa kann man Gesten, Gänge, Niederlassen auf Steinbänken und Aufstehen an zwei Händen abzählen. Aber das Geistige dieser ungeheuren Konfrontation, das Leid des Königs, die Flucht zu einem Menschen, das zukunftstrunkene Bewußtsein Posas, ein Bürger kommender Jahrhunderte zu sein, aber schon heute Prometheus gleich Licht bringen wollend, die allgegenwärtige Macht der Inquisition, die Angst des Königs selbst vor ihr — das alles machten Nicolai Ghiaurov und Piero Cappuccilli durch ihre Persönlichkeiten, die farbenstarken Stimmen erlebbar, durch ihre Möglichkeit, Gedanken und Gefühle, sonst verschlossen in Notenköpfen, ins Bewußtsein zu bringen. Es soll hier nicht Noelte gegen Karajan und viceversa ausgespielt werden; aber mir erscheint wesentlich, daß auf zwei diametral verlaufenden Wegen nicht nur “Oper”, sondern auch grandioses “Theater” erreicht werden kann, falls man zwischen Oper und Theater überhaupt einen Unterschied machen will.

 

Nicolai GHIAUROV, phänomenal disponiert, hebt die Tragödie der Macht ebenso hervor wie die Tragik des alten Mannes, der im menschlichen Bereich scheitert. Unter den fünf hier ineinander verstrickten Schicksalen lebt er die unerfüllte Sehnsucht aller “Gib mir einen Menschen” am bewegendsten.

 

Ein paar große Augenblicke seien erwähnt: wenn er in Posa den “seltenen Mann mit reinem, offenen Herzen, mit hellem Geist und unbefangenem Auge” gefunden zu haben glaubt, reicht er ihm die Hand zum Kuß, Majestät und Wunsch, ein Mensch aus Fleisch und Blut zu sein, in einer Geste. Und dann im Zwiegesang mit dem Großinquisitor: sein strauchelnder Schritt, ein von der Kirche gedemütigter, von seinem Weib verwundeter Riese, der ins Leere tastet, und gleich darauf das Ermannen “Noch bin ich, die Welt ist noch auf einen Abend mein...” — und vielleicht das Ergreifendste: wenn er wenig später die ohnmächtige, tief verletzte Königin in seinen Armen auffängt, sie auf die Bank gleiten läßt, Zorn und Zuneigung zugleich...

 

Und diese Königin hat in Mirella FRENI eine vox humana, sie strahlt über alles, eine ganz von innen her schmerzhaft Erleuchtete, eine ans Kreuz der Geschichte Geschlagene, deren Herz aber noch nicht abgestorben ist. In ihrem Singen spürt man, daß sie noch nicht aller Weiblichkeit entbunden ist, auch wenn Posa und im Abschied Carlos sie zum Engel gemacht haben. Sie trägt die Märtyrerkrone des schmerzensreichen Mädchens mit unvergleichlicher Würde, der adelige Sopran ist ein Wunder, das man nicht analysieren, sondern feiern sollte.

 

Nicht ganz so glücklich macht Fiorenza COSSOTTO als Eboli: steht mit Mirella Freni zuerst ein Mensch auf der Bühne, der singt, so mit ihr eine große Sängerin, die Dramatik von jener plakativen Art schätzt, die wenig nach Wortsinn, Differenzierung und Nuancen frägt, die stimmlichem Effekt alles unterordnet, auch das Herz. Ihre Eboli lebt in temperamentvoller Kälte, sie fasziniert nicht, auch wenn es töricht wäre, ihren Gesang nicht zu schätzen, vor allem in den getragenen Passagen, in Tiefe und Mittellage. Ihre Technik ist so groß, daß sie sogar die rasend schweren Intervalle im “Maurischen Lied” bewältigt, sie ist klug genug, den exponierten Schlußton der Des-Dur-Arie eine Terz tiefer zu nehmen.

 

José CARRERAS ist sehr glaubwürdig als Gefangener des eigenen Dämons mehr noch als des Hofes, dezent und berührend spielt er des Infanten Neurosen aus, tragisch umschattet und hoffnungslos gläubig und groß im ohnmächtigen Protest und Leid. Aber stimmlich ist er heuer der Partie weniger gewachsen als 1976, die leidenschaftlichen Ausbrüche treiben die Stimme immer wieder an ihre Grenze — und wenn das Finalduett einst befreit von Erdenschwere aber dafür voll von Himmelsschwere war, so gelingt diese Verinnerlichung diesmal nur Mirella Freni, denn José Carreras hat nicht jenes durchlebte Piano wie bei der Premiere Placido Domingo.

 

Grandios wieder Piero CAPPUCCILLI, der in diesen Salzburger Sommern nicht nur das Piano, sondern auch seine schauspielerischen Qualitäten entdeckt hat: anfällig für die Faszination, die vom König ausgeht, ein feuriger Freund für den Prinzen, ein Streiter für Ideale — und dies alles mit der vielleicht schönsten Baritonstimme unserer Zeit; wer könnte mit ihm konkurrieren außer Sherril Milnes? Wenn eine persönliche Wertung erlaubt ist: die Legatokultur, das Mezzavoce und das Timbre von Piero Cappuccilli scheinen mir noch schöner zu sein.

 

Jules BASTIN als Großinquisitor macht die Auseinandersetzung in des Königs Kabinett nur zum Zusammenprall zweier Welten, leider nicht auch zweier gewaltiger Baßstimmen. Die einzig Ghiaurov annähernd ebenbürtige Stimme wird für das Schloßgespenst alias Voce di Carlo Quinto eingesetzt (José van DAM), Luxusbesetzungen sind Edita GRUBEROVA für den Pagen und Anna TOMOWA-SINTOW für die Stimme von Oben. Immer wieder hinreißend die Chöre, welch eine Exaktheit selbst auf dieser Riesenbühne, wie selig schwingen sich die Frauenstimmen im Finale II auf, zu welcher Wucht wird die Kerkerszene gesteigert!

 

Ist es erlaubt, über die WIENER PHILHARMONIKER und Herbert von KARAJAN statt eine eigene Lobeshymne zu erfinden ein paar Worte Nicolai Ghiaurovs zu zitieren, die er mir in unserem Gespräch sagte? “Das Bewundernswerteste an den Wiener Philharmonikern ist, daß sie nicht nur eines der ersten Symphonieorchester der Welt sind, sondern eben das beste aller Opernorchester. Sie sind so gewohnt, mit den Stimmen zu leben, sie erfüllen ganz ideal den Wunsch ihres Dirigenten, nicht nur zu musizieren, sondern zu hören, wie wir singen, um mit uns einig zu gehen — wer kann so wie sie die letzte Arie der Königin begleiten? Und Herbert von Karajan: “e una fortuna vivere e lavorare in epoca di Karajan” —es ist ein Glück in der Epoche Karajan zu leben und zu arbeiten. Und so wie man heute sagt: “Ich habe noch unter Toscanini gesungen, ich habe noch Furtwängler gehört, so wird man eines Tages sagen, ich habe noch Karajan erlebt”.

KA