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Salzburger Nachrichten, Aufführung 26. Juli 1976

Schwierigkeiten am Hofe zu Madrid

Glanzvoller “Don Carlos” unter Herbert von Karajan als erste Opernpremiere im Großen Haus

 

Als erste Opernpremiere der diesjährigen Festspiele bildete Verdis ‚Don Carlos” im Großen Festspielhaus einen verheißungsvollen Auftakt. Der Bundespräsident verfolgte höchstpersönlich das Schicksal seines feudalen spanischen Amtsvorgängers und war wahrscheinlich froh, daß seine Anwesenheit nur bei Opernpremieren und nicht bei Autodafés erwartet wird.

 

“Don Carlos” zählt zu jenen Opern Verdis, zu denen der Dirigent Herbert von Karajan eine lebenslange enge Beziehung hat. Dieses eingealterte Intimverhältnis bringt es mit sich, daß wir heute eine durch viele Überlegungen, Erfahrungen, Bestätigungen und wahrscheinlich auch Enttäuschungen gefilterte Auffassung miterleben dürfen, die man als die Quintessenz eines faszinierenden Künstlerlebens betrachten kann. Daß diese Auffassung sich gerade an einem Stoff bewähren muß, der von großen Leidenschaften und politischen und erotischen Spannungen bestimmt ist, bleibt das Geheimnis des Maestro. Der Hörer muß eigene Ansicht, bescheidene Partiturkenntnis und Erinnerung an vergangene Hörerlebnisse hintanstellen können, um zu bekennen, daß der oft unerwartete und ungewöhnliche Duktus, den die Musik Verdis unter den Händen des Maestro annimmt, einem inneren Gesetz gehorcht, das immer folgerichtig ist und das man daher zu respektieren sich gern bereit findet.

 

Die überwältigende Ausstrahlung, die an diesem Abend vom Pult des Herrn von Karajan ausgeht, bleibt dem Regisseur und Inszenator nicht treu. Man sollte um historische Details nicht kleinlich rechten, aber “Don Carlos” ist nun einmal eine “historische” Oper, die wesentliche Stimmungselemente aus dem Zeitkolorit des spanischen 16. Jahrhunderts empfängt. Die seltsame spanische Hofetikette — längst von Historikern in ihren archetypischen Grundlagen gedeutet — macht die vertrakten Beziehungen der Mitglieder des spanischen Zweiges des Hauses Habsburg erst verständlich. Daher ist es undenkbar, daß der Kronprinz Don Carlos, der sich in der ersten Szene korrekterweise vor seinem königlichen Vater auf die Knie wirft, so lange in dieser Stellung verharrt, bis die letzte Hofdame und der letzte Kammerherr vorbeigezogen sind. Die Kammerfrau, die der Königin auf Philipps Ruf “Soccorso” zur Hilfe eilt, kommt durch eine Seitentür, also wohl aus dem Schlafzimmer des Königs, wohin sie auch wieder abgeht. Eboli und Posa stürzen unziemlicherweise unangemeldet in das Schreibzimmer. Die kleinen Pagen, die eben noch den Großinquisitor eingelassen haben, sind offenbar schlafen gegangen. Beim Autodafé erscheinen zwei Bischöfe in untergeordneter Stellung im Gefolge des Königs. Der Großinquisitor, der in feierlicher Prozession die verlorenen Schafe der Kirche dem weltlichen Arm zu überliefern hat, ist anscheinend unpäßlich und unvertreten. Alle diese Details, deren Hervorhebung kleinlich und beckmesserisch erscheinen mag, verfälschen das Bild eines gesellschaftlichen Prozesses, der die Schwierigkeiten am Hofe zu Madrid erst möglich machte.

 

Mag man sich auch über derlei szenische Vergröberungen ärgern, so wird man reichlich entschädigt durch das imponierende Sängerensemble, das auf der Bühne agiert. Eine solche Anhäufung qualitätvoller Stimmen wird man schwerlich an einem anderen Ort der Welt finden.

 

Nicht nur aus Courtoisie nennt man wohl Mirella Freni als Königin Elisabeth zuerst. Ihre zarte Mädchenhaftigkeit dient vortrefflich dazu, die Liebesintrige mit Don Carlos glaubhaft zu machen. Sie ist wirklich das “holde Kind aus Frankreich”, mit welchem Titel Dichter die dritte Gemahlin Philipps II. ausgezeichnet haben. Der lyrische Charakter der gut geführten Stimme, die Süßigkeit und Höhenglanz vereint, kommt der verfeinerten Melodiebildung, die Verdi vornehmlich dieser Figur zugeordnet hat — man denke an die Romanze der zweiten und die Arie der letzten Szene —‚ sehr zugute.

 

Fiorenza Cossotto ist eine Eboli von immer noch beachtlicher Ausstrahlung. Spiel und Gestus sind etwas schematisch, die Koketterie bei dem nächtlichen Rendezvous mit dem Prinzen mehr komisch als verführerisch. Die Stimme ist in der mittleren Lage satt und resonanzkräftig, verliert aber nach der Höhe zu an Glanz. Koloraturen sitzen nicht immer ganz richtig. Die Reuearie des dritten Aktes bildete freilich einen Höhepunkt des Abends.

 

Nicolai Ghiaurov ist ein imposanter Don Philipp, der freilich weit älter wirkt, als es der historischen Wirklichkeit entsprechen würde. Die schöne, füllige Tiefe des üppigen Organs kommt voll zur Geltung. Darstellerisch ist es der Regie offenbar nicht gelungen, den eigenwilligen Sänger ihrem Konzept völlig einzuordnen. Unmotivierte Bewegungen und Gänge zeigen, daß hier Meinungsverschiedenheiten bestanden haben dürften, die nicht völlig überdeckt wurden.

 

José Carreras ist ein blendend aussehender Don Carlos, dem man es gern zutraut, daß er Königin und Hofdamen gleichermaßen entflammt. Sein Spiel ist etwas ungelenk und bedürfte der liebevollen Nachhilfe durch einen an seinen Mitarbeitern wirklich interessierten Regisseur. Seine elegant geführte materialreiche Stimme verbreitet den wünschenswerten Belcantoglanz und könnte im Piano noch etwas verfeinert werden. Piero Cappuccilli und dieser Carlos bilden zusammen ein eindrucksvolles Freundespaar. Dieser interessante Marquis Posa sorgt in den Duetten mit Don Carlos —vor allem in dem rhythmisch schwierigen der ersten Szene — stets für ein sicheres Fundament. Er verfügt über eine kräftige Mittellage, deren Qualität sich nicht zuletzt in der Eingangsarie der Gefängnis-Szene erweist. Die seltsame Figur des geheimnisvollen Mönchs, der den damals schon lange verstorbenen Karl V. repräsentieren soll und eine wenig glückliche Erfindung der Librettisten darstellt, verkörpert .José van Dam mit Würde und Anstand.

 

Weniger glücklich ist die Besetzung des Großinquisitors mit Jules Bastin, der stimmlich und darstellerisch ziemlich provinziell wirkt.

 

Kleine Partien sind überaus sorgfältig besetzt. Das fiel vor allem beim Pagen Tebaldo (Edita Gruberova) und bei der bedauernswerten Gräfin Aremberg (Walburga Wallner) auf. Anna Tomowa-Sintow war eine ergreifende “Stimme vom Himmel”.

 

Ein wesentliches Kernstück des Erfolges der Aufführung sind die von Walter Hagen-Groll sehr präzise studierten Chöre der Staatsoper und des Singvereins der Gesellschaft der Musikfreunde. Die Wiener Philharmoniker müssen sich erst wieder an die Zusammenarbeit mit Herbert von Karajan gewöhnen. Dann werden die winzigen Mißverständnisse, die immer noch das Bild der Vollkommenheit ein wenig trüben, verschwinden. Das Blech verhielt sich an diesem Abend — vielleicht zufolge der starken Luftfeuchtigkeit sehr problematisch. Auch beim Holz gab es kleine Intonationsschwankungen. Dafür waren die Streicher in Hochform. In der Erinnerung haftet vor allem das Cantabile des Violoncellos vor dem dritten Akt!

 

Großer Jubel für den Maestro und Regisseur, der freilich auch einen Buh-Ruf hinnehmen mußte, und alle Sänger (nach den Arien und zu den Aktschlüssen) belohnten einen denkwürdigen Abend, der höchsten Ansprüchen gerecht wurde.

W—g