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Salzburger Volkszeitung, Vorstellung 13.4.1976

Die gestörte Erschütterung

Geistliches Konzert der Osterfestspiele: Verdis Requiem

 

 

Die Aufführung des Verdi-Requiems kann ohne Zweifel der eigentliche Höhepunkt der heurigen Osterfestspiele genannt werden. Das mag zwar an und für sich keine sehr erfreuliche Bilanz sein, aber unleugbar hat Herbert von Karajan erst mit diesem seinem Naturell wohl am nächsten stehenden Werk die Faszination und den Glanz der Ausstrahlung zurückgewonnen, die beim “Lohengrin” und den beiden vorhergehenden Konzerten etwas verblaßt schienen. Das Requiem wurde die krönende Jubiläumsfeier der Spiele und wird es am Karfreitag abend sicherlich nochmals sein.

 

Naturgemäß forderte dieses Konzert einen Vergleich mit der sommerlichen Aufführung des Werkes, ebenfalls unter Karajan, heraus, und hier gebührt trotz allem der früheren eindeutig die Palme. In der musikalischen Auffassung hat sich nichts Entscheidendes geändert. Gleich großartig bestürzend erklang das Werk am Dienstag in seiner ganz ausgelasteten Dramatik, der vollen Soße seiner Kantilenen, der geballten Wucht in der Symbiose des Transzendenten mit dem schillernden Äußerlichen. Der Nerv dieser Musik ist bloßgelegt worden.

 

Wer aber die Aufführung der Sommerfestspiele noch im Ohr hatte, wird dem damaligen Solistenquartett in seiner unbedingten Ausgewogenheit etwas nachgetrauert haben. Diesmal zerfiel das absolut homogene Stimmensemble von damals in vier herrlich gesungene Einzelpartien. die Stimmcharaktere der Sänger schlossen sich nicht mehr zu einem solchen Ganzen zusammen sie “schlugen” sich zum Teil sogar. Montserrat Caballés warmer und leuchtender Sopran entfaltete sich erst. richtig in der unerhörten Expansion, in der sie ihre Partner mühelos überdeckt. Mirella Freni an ihrer Stelle war keine unnahbare Padrona, sondern ein Wesen von berührender Einfalt, stimmlich flexibler, glockenrein, wenn man so will: himmlischer. Fiorenza Cossottos hochdramatischer Alt in seinem ebenfalls exponierten Timbre war kein idealer Kontrast zu Caballé, für sich allein genommen kann man sich diese Partie kaum wahrhafter, unmittelbarer, erschütterter gestaltet denken.

 

José Carreras zu junge Stimme kam neben solch ausgereiften “Veteranen” nicht ganz zur Geltung, was nicht gegen seinen wunderbaren dunkel gefärbten Tenor spricht. José van Dam kann, was das Volumen seiner Baßstimme betrifft, sicher nicht mit Ghiaurov konkurrieren, sehr wohl aber in der Differenzierung des Gesanges, im Textverständnis und der geistigen Durchdringung. Van Dam hat die monumentale Gewalt der Worte, die gerade dem Baß unterlegt sind, in sich aufgesogen, seine Interpretation gleicht an vielen Stellen einer gemessenen. ernsten, auf das Inhaltliche bezogenen Rezitation. Beeindruckend und in seiner Klang— und Wortdifferenzierung ebenfalls kaum zu übertreffen war der Singverein der Gesellschaft der Musikfreunde, wenn er auch an manchen Stellen zu überpointiert und straff-militärisch wirkte

 

Nach dem ersterbenden “Libera me” des Soprans wurde man brutal aus der Erschütterung gerissen, durch ein ohne Einhaltung auch nur der kürzesten Pietätspause einsetzendes, an dieser Stelle nicht mehr als albern wirkendes Klatschen. Da auch der Maestro diesmal keine Anstalten machte, die unstatthaften Ovationen zu bremsen blieb für den, der sich etwas von der Ergriffenheit bewahren wollte, keine andere Möglichkeit als die Flucht aus dem tosenden Saal.