Zum Inhalt/To index
 
 
 
 

Süddeutsche Zeitung, München

 

Der große Abend: Verdis Totenmesse

Das Requiem unter Karajan

 

Verdis “Messa da Requiem” unter Karajan: ein Erlebnis großer Interpretations- und Gestaltungskunst. Denkt man an frühere Salzburger Festspielaufführungen der monumentalsten al1er Totenmessen zurück, so ist Karajan heute der Repräsentant der einzigartigen Tradition, die dort von Arturo Toscanini, Victor de Sabata und Dimitri Mitropulos geschaffen wurde, und man kann sagen, daß sich in ihm vereinigt, was das Charakteristikum jedes seiner großen Vorgänger gewesen ist, wenn sie das Verdi-Requiem dirigierten — die ungeheure Dramatik und bildhafte Anschaulichkeit der beiden Italiener und die verzehrende Inbrunst des Griechen.

 

Wenn Karajan die zermalmenden Schläge des “Dies irae” losbrechen läßt, wenn die Triolen in der Chordeklamation (es sind nur zwei Takte) zum rhythmischen Signum des Erdbebens werden, das die Gräber öffnet, und nach den chromatisch abstürzenden Streichersechzehnteln die hohen Holzbläser und die Trompeten hineingellen — da hört man das “Heulen und Zähneklappern” und sieht die Verzweiflung der die Verdammnis Fürchtenden vor sich wie auf den Fresken des “Jüngsten Gerichts” von Luca Signorelli im Dom von Orvieto. Und noch stärker vielleicht als die gräßliche, mit der ganzen dramatischen Vorstellungskraft Verdis klanglich aufgepeitschte Vision wirkt danach jene nur von den stockenden “Herzschlägen” der Streicher und der großen Trommel durchbrochene Totenstille des Baßsolos “Mors stupebit” — wer wäre davon nicht im Innersten gepackt?

 

So großartig plastisch Karajan mit den Berliner Philharmonikern und dem Singverein der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien (große Reverenz seinem Leiter Helmut Froschauer) die von den Bilderzyklen des “Jüngsten Tages” auf den Wänden Italienischer Campi Santi inspirierten Schreckensvisionen auf die Zuhörer hereinstürzen läßt, so wunderbar beseelt und innig breitet er die innere, nicht von fürchterlichen Gesichten aufgewühlte Klanglandschaft des Requiems aus, die des Bittens und Flehens, des Hoffens und Verzagens, dynamisch aufs sensibelste modelliert im Chorrelief, aufs zarteste differenziert in der Instrumentalbegleitung der Solistenensembles (Beispiel: die Celli im “Offertorio”). Die “Sanctus”-Fuge braust dahin wie eine Sturzflut der Glaubenskraft und Zuversicht - sie ist das einzige Stück von demonstrativer Faktizität in dieser Partitur, und so stellt sie Karajan auch hin, mitreißend, ein überwältigendes Alla-breve-Monument.

 

Zum Höhepunkt der Osterfestspiele wurde die Aufführung, die am Karfreitag noch einmal wiederholt wird, auch vokal durch das Solistenquartett, das dabei im Großen Festspielhaus zu hören war, vier Stimmen, die wie geschaffen schienen für die singuläre Verbindung von höchster Expressivität und makelloser Gesangskultur, von Belkanto und Spiritualität, die hier verlangt wird: Montserrat Caballés im Ätherischen verschwebender Sopran, Fiorenza Cossottos edelstahlgleicher Alt (herrlich der Zusammenklang der beiden Stimmen in der Oktova beim “Agnus Dei”), der strahlende, biegsame und eines wahrhaft verhauchenden Pianissimo fähige Tenor von José Carreras (ein junger Spanier, von dem man noch viel hören wird) und der samtig-profunde Baß von José van Dam.

 

Dem empfindungslos nach dem letzten “Libera me” lospreschenden Beifall wehrte man vor weiterer Ausbreitung, bis er nach einer Pause der Sammlung um so stürmischer freien Lauf erhielt. Nach eineinhalbstündiger pausenloser Hochspannung nahm man Abschied von einem großen Festspielabend.

 

K. H. RUPPEL