Zum Inhalt/To index
 
 
 
 

Salzburger Nachrichten, Vorstellung 13.4.1976

Karajan und das Spektrum des Werkes

Verdis “Requiem” mit den Stimmen von Caballé, Cossotto, Carreras und van Dam im Festspielhaus

 

 

Herbert von Karajans Neigung zu Giuseppe Verdis monumentaler Totenmesse ist schon an der Anzahl der Salzburger Aufführungen des Werkes abzulesen. Zuletzt dirigierte er es im Sommer mit den Wiener Philharmonikern. Jetzt ist nur mehr der “Singverein der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien” als personelle Konstante erhalten geblieben. Zu den alternierenden Solisten trat das Berliner Philharmonische Orchester.

 

Es ist nun weniger von Karajans Auffassung dieses Requiems zu reden. Verbindlich ist seine maximale Ausschöpfung der polar angelegten Ausdruckskapazitäten der Partitur. Die kammermusikalische Bescheidung gläubig-pathetischer Passagen erfährt alle instrumentale wie chorische Sorge, die opernhaft ausschweifenden Sequenzen (etwa des “Dies irae”) erschüttern den Raum, als wären alle Schleusen geöffnet. Zwischen diesen dynamischen und seelischen Extremen läßt Karajan in die Breite und in die Tiefe musizieren, so daß das Werk als Architektur begriffen werden kann.

 

Das Solistenquartett mit Montserrat Caballé (Sopran), Fiorenza Cossotto (Mezzosopran), José Carreras (Tenor) und José van Dam (Baß) entledigte sich seiner Aufgaben nicht mit jener restlosen Homogenität, wie sie für eine bruchlose Integration ins Werkganze angemessen erscheint, weil Fiorenza Cossotto in der tieferen Lage sehr abdunkelte, vom Timbre her ein dem Werk fernes Moment südländischen Temperaments überzog.

 

Montserrat Caballé sang den Sopranpart aus der Ruhe einer alle Reserven speichernden Gestalt, aus Konzentration und musikalischer Intelligenz bereitete sie ihr Piano vor und steigerte zu einer Orchester und Chor überstrahlenden Leuchtkraft. Ihre stilistische Haltung ist unverkrampft, schmucklos, aber von um so größerer Wirkung. Im “Libera me”, wenn nach strapaziösen Aufschwüngen gesangliche Einkehr in höchster Lage abverlangt wird, reagiert ein Stimmband wie mit dem Bogen leicht angestrichen, offenbart nebenbei, welche Kraft solch gebändigter Ton erfordert. Der Mezzo von Fiorenza Cossotto ist daneben unter der Schwere des tieferen Materials unbeweglicher geführt, aber mit außerordentlicher Mitteilungskraft in der Höhe und den Text abbildenden Zwischenfarben in mittleren Bereichen.

 

Der junge spanische Tenor José Carreras, von Montserrat Caballé entscheidend gefördert, bedeutete für Salzburg eine neue Erfahrung. Von Schallplatten kennt man ihn schon. Mittlerweile haben sich bedeutende Opernhäuser der Mitarbeit Carreras versichert. Der Preisträger eines Verdi-Wettbewerbs hat eine jugendlich-straffe, unverbrauchte und tenoralen Glanzes fähige Stimme, deren voller Wert sich mehr in den emphatischen Partien als in intimen Wendungen entfaltet. Im Piano muß sich erst legen, was im Brio mit äußerstem Elan und auch mit Kraft angefacht wurde. Dies scheint mir das außerordentliche Potential dieses Sängers zu gefährden, denn Schonung ist Carreras Sache nicht unbedingt. Sollte Carreras der gesunden Entfaltung seiner Stimme mehr Vorsicht widmen, so ist ihm eine ungewöhnliche Laufbahn zu prophezeien.

 

Wie man sich in der Gewalt hat, demonstrierte José van Dam. Sein Gesang entbehrt aller Künstlichkeit, ist von human bestimmter Selbstverständlichkeit, wo er sich ungehindert auf den mit der Stimme besetzten Inhalt konzentriert. Van Dam suggeriert jene schlanke Väterlichkeit, die im Baßfach oft schnell gegen dunkles Altmeistertum und einen Verlust an Konturen eingetauscht wird.

 

Verdis “Requiem” kommt einer Institution wie dem von Helmuth Froschauer vorbereiteten Singverein entgegen, der im Piano von erhebender Konstanz und Farbreinheit ist. Der Überhang an Frauenstimmen beeinträchtigte weniger als die doch begrenzte Durchschlagskraft insgesamt, was auf unterschiedliche Sängerqualitäten schließen läßt. Freilich ist es nicht leicht, gegen das Blech der Berliner anzusingen, es womöglich als Register unter vielen in Schach zu halten. Dieses Blech ist imstande, die verwickeltste Motivik in den Strudeln des “Dies irae” hörbar und plausibel zu machen, legt sich aber gleichermaßen in warm intoniertem Choral neben auspendelnde Bewegungen der Streicher. Die Berliner — samt den seitwärts postierten Bläsern für das “Tuba mirum” — erfaßten das Werk in aller Reife und Emphase.

 

Karajan, sichtlich beteiligt und mit allem und allen beschäftigt, ließ es diesmal nicht auf eine Kraftprobe mit dem Publikum ankommen: Wer applaudieren wollte, tat es, als sich Dirigent und Solisten zeigten. Liberales Ende des ersten Osterfestspielzyklus.

 

 

 

f. e.