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Orpheus 3/1987

BEGEGNUNG MIT JOSE CARRERAS

DIE OPER HAT MIR ALLES GEGEBEN

Wenn etwas die Laufbahn Jose Carreras‘ in den vergangenen vier Jahren besonders charakterisiert so ist das die Rolle des Don Jose gewesen, mit der der Tenor aus Barcelona einen rauschenden Erfolg hat. Seit er 1982 in Madrid zum ersten Mal damit auftrat, hat sich Jose Carreras die Rolle des leidenschaftlichen Brigadiers so zu eigen gemacht, daß er sie zu einer eigenen Schöpfung um wandeln konnte; daraus erklären sich seine großen Erfolge in Wien, London, Mailand, Salzburg, Zürich, Verona, Orange, in Japan und demnächst an der Met..

ORIOL AGUILA, Mitarbeiter der spanischen Musikzeitschrift „Montsalvat“ (der wir für den Abdruck danken), unterhielt sich mit dem Tenor.

CLEMENS SINDELAR übersetzte aus dem Spanischen.

Kann man die Oper „Carmen“ als Ihre liebste bezeichnen?

Im Moment ist „Carmen“ eine der Opern, die ich am liebsten mache, weil sie eine Folge von dramatischen Situationen darstellt, in denen sich, abgesehen vom reinen sängerischen Element, die interpretatorischen Leistungen eines Sängers am besten darstellen lassen. Genau deshalb singe ich den Don Jose so gern.

Durch welche Wesenszüge wird Ihrer Meinung nach diese Rolle besonders gekennzeichnet?

Zweifellos könnte man die Tatsache herausstellen, daß es sich um einen Mann handelt, der in äußerst vielfältiger Weise auf die dramatischen Situationen im Laufe der Oper reagiert. Im ersten Akt zum Beispiel ist Don Jose eine ziemlich naive Person, ein sehr einfacher und treuherziger Mensch. Im Verlaufe dieses Aktes erlebt er zum ersten Mal die Liebe. Man könnte sagen, es handelt sich um den dramatischen Konflikt eines verliebten Mannes, der sich an seine Mutter erinnert und, verbunden damit, an seine Familienbande, geprägt von einer katholischen Erziehung. Diese Situation, kombiniert mit dem leidenschaftlichen Charakter Don Joses und seiner echten und tiefen Liebe zu Carmen, führt dazu, daß wir uns im dritten Akt einem Mann gegenübersehen, der sich völlig verändert hat, um sich im vierten Akt zu unglaublichen dramatischen und pathetischen Ausbrüchen zu steigern. Meine Interpretation hingegen umläuft von Anfang bis Ende dieselbe Person, aber mit einer großen Zahl verschiedener und gegensätzlicher Facetten. Und das macht die Rolle des Don Jose so attraktiv.

Wenn Sie im Laufe einer Aufführung auf der Bühne stehen, versetzen Sie sich dann in die Rolle der Person, die Sie darstellen, derart, daß Sie die Situation wirklich erleben oder, im Falle des Don Jose für einen Moment zumindest, sich wirklich verlieben?

Da gibt es keinen Zweifel. Ich glaube, das ist wichtig, um eine reale und überzeugende Darstellung der Rolle zu gewährleisten. Der Gesang ist: Herz, Sensibilität..., aber auch Gehirn, in Wirklichkeit eine Kombination aus den dreien. Ich spreche jetzt im besonderen vom letzten Akt der "Carmen“, einem der aufregendsten Momente für einen Tenor; und hier fühle ich mich als Don Jose und lebe sein Schicksal. Aber obwohl die Musik, der Text und die Darstellung auf der Bühne einer gewissen Spontaneität entspringen, gibt es ein Gehirn, das in der einen oder anderen Weise die Impulse des Herzens bestimmt, die wiederum von der Sensibilität des Sängers beeinflußt werden. Das heißt also, daß jede Darstellung, die von dieser Mischung beeinflußt wird, einer strengen Kontrolle unterworfen sein muß, andernfalls käme es zu irrationalen Effekten. Man kann also sagen, daß das Gehirn alles, was dem Sänger von Seiten seines Temperaments, seiner Sensibilität und seiner Psyche zufließt, dosieren und kontrollieren muß.

Bei den letzten beiden Aufführungen der „ Carmen“ war man, was die musikalische Seite der Aufführung anbelangt, des Lobes voll, aber man hat doch die szenische Realisierung durch Herbert von Karajan kritisiert. Wie ist Ihre Meinung dazu?

Karajan ist ein außergewöhnlicher Dirigent, ohne Zweifel der beste der Welt, und die „Carmen" ist eine seiner faszinierendsten Aufführungen. Aber zweifellos ist er ein besserer Dirigent als ein Regisseur, obwohl man anerkennen muß, daß seine Arbeiten großen Stil haben. Kann sein, daß diese „Carmen" außergewöhnlich konventionell war und besser vor zwanzig Jahren aufgeführt worden wäre. Und nach den Versionen von Ponnelle oder Brooks war das Publikum wohl enttäuscht. Doch die musikalische Realisierung war wunderbar (...). Mit Karajan ist das etwas Besonderes. Er ist ein echtes musikalisches Genie und ein Mensch mit großer Sensibilität. Sein Charisma und seine unglaubliche musikalische Intelligenz heben ihn weit über andere Dirigenten hinaus.

Kommen wir zu einem anderen Thema. Welches sind die Opern, die Ihnen am meisten gefallen?

Ich glaube, daß mir Partien der romantischen Opern einschließlich einiger ausgewählter Rollen des Verismo am besten liegen. Das heißt also Puccini, das französische Repertoire und vor allem Verdi, mein bevorzugter Komponist. Nicht zu vergessen seien einige Ausflüge ins Belcanto-Fach, wie zum Beispiel „Lucia" oder „L Elisir".

Haben Sie einige Lieblingsrollen?

Das ändert sich, aber im Moment würde ich den Rodolfo, Andrea Chenier und den Don Jose zu meinen Lieblingspartien zählen. Ich singe aber auch gern den Werther, Manrico und Don Alvaro.

Im Juni letzten Jahres debütierten Sie als Canio im Teatro de la Zarzuela in Madrid, einem Theater, das Ihnen Glück zu bringen scheint bei der Übernahme neuer Rollen. Dort werden Sie auch 1988 zum ersten Mal zusammen mit Agnes Baltsa in „Samson et Dalila“ auftreten. Andere Rollen, die Sie in Zukunft übernehmen wollen, sind: Des Grieux in London und die Titelrolle in „Le Cid" an der Scala (...). — Sie haben einmal gesagt, daß Sie sehr gern Wagner singen würden. An welche Rollen denken Sie?

Ich möchte einmal etwas von Wagner singen. Wann, steht noch nicht fest. Ich glaube, für meine Stimme liegen der Stolzing und der Lohengrin recht gut. Das wird wohl noch fünf Jahre dauern, und vorher möchte ich perfekt Deutsch können. Es macht mir Angst, wenn ich sehe, daß einige meiner Kollegen Rollen singen in einer Sprache, von der sie kein einziges Wort verstehen. Ich bewundere das, aber so könnte ich nicht arbeiten. Das ist meine persönliche Meinung.

Gibt es Partien, die Sie gern singen würden, die aber nicht in Ihr Fach passen?

Sicherlich, ich habe nicht die Fähigkeiten und Möglichkeiten, alles zu singen. Wie jede Stimme, so ist auch meine bestimmten Grenzen unterworfen. Einer meiner Träume ist es, in „Guillaume Tell“ zu singen; die Partie des Arnold ist außergewöhnlich schwer. Dann gibt es natürlich bestimmte Baß- und Bariton-Partien,die besonders faszinierend sind: Scarpia, Filippo oder Don Giovanni. Aber davor muß ich meine Augen verschließen.

Sie haben den Vorsitz bei dem Internationalen Gesangswettbewerb „Julian Gayarre“ übernommen, der 1986 zum ersten Mal in Navarra stattgefunden hat. Glauben Sie, daß ein Sänger mit einer guten Stimme und entsprechendem Talent sehr früh oder sehr spät anfangen soll aufzutreten?

Die Stimme ist nur eine Seite des Problems; es gibt noch andere Komponenten, die einen Sänger ausmachen. Mascagni sagte: "Um singen zu können, brauch man sogar eine Stimme", und hat damit sicher recht. Da gibt es noch andere wichtige Bedingungen: Musikalität, Hingabe, ein angeborenes Talent, Charisma, die Ausstrahlung auf der Bühne - man muß kein Laurence Olivier sein - Nervenstärke und die Fähigkeit, ein Orchester zu überwinden. Ich glaube, daß all das zusammenkommen muß, damit man von einer Stimme mit ‚‚Qualität" sprechen kann.

Wenn wir einmal bei den Tenören bleiben, so scheint es auf der internationalen Szene nicht besonders vielversprechend auszusehen!?

Ich sehe da einige, von denen ich glaube, daß sie mein Niveau haben, auch wenn sie sehr viel später als ich zu singen begonnen haben, zum Beispiel Peter Dvorsky, Neil Shicoff oder auch Luis Lima, der mir sehr gut gefällt. Ich glaube, daß diese drei, alle so um die Ende Dreißig, interessante Stimmen haben und gute Sänger sind, auch wenn sie vielleicht noch nicht meine Professionalität haben. Aber im Falle von Peter Dvorsky, glaube ich, kann man von einer sensationellen Stimme sprechen.

Ihre kommenden Plattenaufnahmen sind „La Juive“ (mit Freni und Ghiaurov), „Andrea Chenier“ (mit Marton und Zancanaro), „Norma" (unter Karajan), „La forza del destino" (unter Sinopoli) und „Fedora" (mit Marton) (Die beiden letzten Opern sind vor einigen Wochen bereits erschienen, d. Red.). Wenn Sie unter all den Opern, die Sie schon aufgenommen haben, wählen müßten, welche würden Sie aussuchen?

Das weiß ich wirklich nicht. Es fällt mir schwer, darauf eine Antwort zu geben. Einige finde ich vom Gesanglichen her sehr gelungen, bei anderen wiederum gefällt mir die Interpretation, mit einigen bin ich sehr unzufrieden. Ich habe ungefähr 70 Schallplatten mit Opern und Liedern aufgenommen und könnte daher beim besten Willen nicht sagen, welche ich auswählen würde. Aber betrachten wir einmal das rein Vokale, so würde ich zu „Lucia di Lammermoor" mit Montserrat Caballe und Lopez-Cobos greifen. Auch der Rossini-,,Otello“, den ich mit Lopez-Cobos aufgenommen habe, gefällt mir. Die Aufnahme, die mir am besten gefällt, weil ich mit meiner interpretatorischen Leistung sehr zufrieden bin, ist die „Carmen“ unter Herbert von Karajan.

Und was wären die drei Lieblingsplatten ‚für die „einsame Insel"?

In diesem Falle würde ich die „Tosca" mit Callas, Gobbi und de Sabata, dann die letzte Arie und die Cabaletta aus „Il Pirata" mit der Caballe und die Live-Aufnahme des „Don Giovanni“ mit Siepi unter Furtwängler mitnehmen.