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Opernwelt August 1979
Gespräch mit José Carreras
Ein ganz normales Leben führen
  
Herr Carreras, Sie sind ein sehr junger Mann und schon seit Jahren ein international gefragter Künstler; ein Sänger der Spitzenklasse. Liegt darin nicht eine gewisse Gefahr, in diesem frühen Ruhm? Alle großen Opernhäuser der Welt, die berühmtesten internationalen Festspiele und sämtliche Schallplattenfirmen von Bedeutung reißen sich um den Sänger José Carreras. Alles Versuchungen für einen jungen Künstler, die seine kontinuierliche Entwicklung gefährden könnten.
Das hängt allein von der Einstellung, von der Mentalität dieses jungen Sängers ab. Es ist richtig, daß ich an den führenden Häusern der Welt, an den wichtigsten Festspielen und für verschiedene Schallplattengesellschaften tätig bin. Aber ich bin fest davon überzeugt, daß ein Künstler in einer Aufführung mehr lernen kann als in sechs Monaten Unterricht. Die wichtigsten Dinge kann er sich nur auf der Bühne und nicht im Studierzimmer aneignen. Ein Künstler muß Karriere machen, solange er noch jung ist, auch seine Stimme jung und leistungsfähig.
Ist die Versuchung der attraktiven Angebote nicht zu groß? Kann man da noch gelegentlich Nein sagen?
Viele Leute sind der Meinung, daß wir nur Jasager sind. Aber es ist nicht so. Wenn man noch nicht reif genug ist für eine Aufgabe, die Zeit für sie noch nicht gekommen ist, darf man solche Angebote nicht annehmen. Bei mir war das mit «Manon» und «Troubadour» der Fall. Ich meine, daß allein der Sänger selbst beurteilen kann, ob ihm eine Partie liegt oder nicht. Ich hatte die größten Erfolge in Rollen, von denen man meinte, sie seien zu schwer für mich: in «Maskenball», «Macht des Schicksals» und «Don Carlos». Die Entscheidung muß man eben selbst treffen. Außerdem habe ich einen guten Berater, den ich vor solchen Entscheidungen um Rat bitte.
Ihre nächste Rolle ist der Radames in der Salzburger «Aida». Ist es eine Grenzpartie für Sie?
Ich weiß es noch nicht. Nach der Schallplattenaufnahme habe ich ein gutes Gefühl. Ich glaube, daß zum Beispiel der Rudolf in Verdis «Luisa Miller» teilweise schwieriger ist als der Radames. Oder das Liebesduett im «Maskenball». Auch der Carlos und der Tenorpart im Verdi-Requiem sind sehr dramatisch. Selbstverständlich weiß ich genau, was für eine schwere, heroische Partie der Radames ist. Ich singe sie in Salzburg, weil ich mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen möchte, unter Karajan in der Rolle zu debütieren. Ich bin sicher, daß es vier oder fünf Jahre dauern wird, bis ich sie wieder auf der Bühne singen werde. Aber die Zusammenarbeit mit Herbert von Karajan ist für mich eine einmalige Gelegenheit: Es ist eine ganz individuelle, lyrische Version der «Aida».
Wird der Othello die nächste Station sein?
Othello ist eine Partie, die eine bestimmte Reife verlangt. Nicht nur in vokaler Hinsicht, sondern vor allem an menschlicher Reife. Eine Rolle, die man mit vierzig Jahren singen sollte. Ich kann noch warten. Selbstverständlich träumt jeder Tenor davon, einmal den Othello singen zu können. Für mich stellt sich die Frage noch nicht.
Sie arbeiteten bei Schallplattenaufnahmen wiederholt mit dem Dirigenten Lamberto Gardelli zusammen. Gardelli ist ein Dirigent, der viel von Stimmen versteht. Zur Zeit nehmen Sie mit ihm Verdis «Stiffelio» auf.
Maestro Gardelli ist ein Dirigent, der die Stimme liebt. Das ist heutzutage eine Seltenheit. Seit meiner ersten Zusammenarbeit mit ihm, der Schallplattenaufnahme von Verdis «Un Giorno di Regno», fanden wir öfter zusammen, so auch wiederholt im Covent Garden in London. Er hilft den Sängern sehr viel und ist nicht zuletzt ein hervorragender Musiker. Ich arbeite sehr gerne mit ihm.
Die Begegnung mit Karajan
Wir sprachen von Herbert von Karajan. Er stellte Sie bei den Salzburger Festspielen vor. In Verdis «Don Carlos» ernteten Sie einen singulären Erfolg. War es eine wichtige Begegnung für Sie?
Sehr bedeutend in jeder Beziehung. Wichtig für meine Karriere, aber für mich selbst vor allem aus künstlerischen Gründen. Es ist eine große Chance, unter Herbert von Karajan singen zu dürfen. Die Arbeit mit ihm ist unkompliziert. Wenn er dirigiert, haben Sie das Gefühl, als stünde ihr Vater am Dirigentenpult. Er weiß genau, was er will, und das verlangt er auch von den Sängern. Sie bekommen dabei jede Hilfe von ihm. Er hat eine unglaubliche Ausstrahlung. Musik ist für ihn eine sehr logische Sache. Er respektiert den Komponisten, und das erwartet er auch von seinen Künstlern. Man muß mit ihm auf der gleichen Wellenlänge sein, dann wird es ganz einfach.
Herr Carreras, Sie sind nicht nur ein guter Sänger, sondern auch ein hervorragender Schauspieler. Gab es in Ihrer Karriere wichtige Anregungen von dieser Seite, von Regisseuren?
Nehmen wir als Beispiel den Rodolfo in «La Bohème». Man sollte von verschiedenen Regisseuren etwas übernehmen, die Partie etwa hundert Mal singen — und dann hat man eine reife Vorstellung von der Figur. So ist es mit allen Partien. Das Wichtigste für einen Regisseur ist es, zu wissen, mit welchen Künstlern, mit welchem «Menschenmaterial» er zu tun hat. Denn jeder Sänger ist anders. So ist es ein großer Unterschied, ob Domingo oder Carreras den Werther singt. Der Regisseur muß das wissen, und Künstler wie Ponnelle, Schenk, u. a. wissen es auch.
Ein wichtiges Stichwort ist gefallen: Domingo. Was bedeutet für den Sänger José Carreras die Herausforderung Placido Domingo?
Ich meine, daß die Zeit einer eventuellen Konkurrenz vorbei ist. Hinzufügen möchte ich: Placido Domingo ist für mich der größte Tenor unserer Tage. Ich bewundere ihn sehr. Er ist ein großer Künstler und ein sehr guter Freund von mir. Ich habe viel von ihm gelernt, er hat mir zu Beginn meiner Karriere sehr geholfen. Auch jetzt gibt er mir gelegentlich gute Ratschläge, dank seiner größeren Erfahrung. Um es zu wiederholen: Er ist erstens ein guter Freund und zweitens einer der größten Sänger unserer Zeit.
Gibt es unter den Sängern der Vergangenheit Vorbilder für Sie?
Jeder Tenor hat seine Favoriten. Ich habe eine spezielle Zuneigung zur Kunst Giuseppe di Stefanos. Er war ein großes Beispiel für mich. Als ich vor zehn, fünfzehn Jahren seine Aufnahmen hörte, hatte ich den Wunsch, einst meinen Zuhörern so viel geben zu können, wie er es tat. Ich spreche jetzt nicht von der Stimme, von Technik, sondern vom Gefühl, das in seinen Interpretationen mitschwingt. Er war ein ganz großer Sänger.
Singen ist in unserer Zeit ein mehr intellektueller Prozeß, als es vor etwa fünfzig Jahren gewesen ist?
Ich weiß nicht, ob es intellektueller ist, aber gewiß in einer bestimmten Art gewissenhafter. Vor allem haben wir mehr Respekt vor dem Komponisten. Es ist heute eine andere Art des Singens. Wobei ich finde, daß die Stimmen damals besser waren. ich meine das Material.
War früher die Materie besser und heute der Umgang mit ihr, kurzum die Technik?
Ich glaube nicht das die Technik des Singens besser geworden ist, aber die allgemeine musikalische Grundlage. Ein Ergebnis der harten Konkurrenz durch die Schallplatte. Die Erwartungen des Publikums sind größer geworden.
Sie sind ein Verdi- und Puccini—Tenor par excellence. Wie stehen Sie zu den Partien des deutschen Repertoires?
Da gibt es zwei Probleme. Erstens die Stimme. Für Mozart ist meine zu schwer, für Wagner zu leicht. Das andere Problem ist die Sprache. Ich beherrsche die deutsche Sprache nicht und bin der Meinung, daß ein Sänger nicht in einer Sprache singen sollte, die er nicht versteht. Für mich steht der Text an erster Stelle. Oper ist ja schließlich Theater.
Lernen Sie schnell, Herr Carreras?
Es hängt von der Rolle ab. Als ich den Alvaro in der «Macht des Schicksals» zum ersten Mal sang, hatte ich schon seit zehn Jahren eine feste Vorstellung davon, wie ich die Figur gestalten will. Das Wichtigste ist die Interpretation des Textes, jedem Wort, jedem Satz den richtigen Sinn zu verleihen. So entsteht der Charakter einer Figur.

Neue Aufgaben

Welche neuen Aufgaben warten auf Sie?
Auf der Bühne nach dem Radames in Salzburg der Enzo in «La Gioconda». Auf Schallplatten der Canio unter Muti (und auch die «Cavalleria rusticana»), eine neue «Tosca» unter Karajan, zum ersten Mal der Manrico in einer neuen Aufnahme des «Troubadour» — nicht auf der Bühne! — und schließlich der Pollione in der Neuaufnahme von Bellinis «Norma».
Ich weiß, daß die Leistungsfähigkeit eines Sängers sehr unterschiedlich ist. Trotzdem meine Frage: Wie viele Auftritte sollte er zum Maßstab nehmen?
Das hängt von vielen Dingen ab. Das größte Problem ist das Reisen. Ich meine, ein guter Durchschnitt sind siebzig bis fünfundsiebzig Abende in einem Jahr, zusätzlich die Schallplattenaufnahmen. Um in Form zu bleiben, ist es für einen Sänger sehr wichtig, ein ganz normales Leben zu führen. Ohne Exzesse, aber auch ohne asketische Einschränkungen. Eben: ein ganz normales Leben.
Herr Carreras, ich danke Ihnen für dieses Gespräch. (Gesprächspartner: Imre Fabian)