Oper und Konzert 5/1985 |
Carmen |
Salzburger Osterfestspiele - Großes Festspielhaus - 30.3.85 |
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Sie ist Nietzsches heitere Heldin, diese
schwarzlockige Zigeunerin: todbringende Nemesis und heiteres Proletarierkind
mit erdhafter Erotik, einer lässigen Laszivität, die aus dem Unbewußten
wirkt. Kein Vamp, kein Dämon, keine femme fatale, sondern ein sinnliches
Geschöpf, das die Männer verbrennt, ohne es wirklich zu wollen. Schreitet sie
bloßfüßig auf Don José zu, katzenhaft leise, dann ist sie wie ein Raubtier,
jenseits von Gut und Böse. Tanzt sie, ist sie Musik und Rhythmik verfallen,
in jeder Faser unbewußte Verlockung, das elementar Verführerische liegt in
ihrer Existenz. Sie besingt die Karten, stürzt ins Messer in unsentimentalem
Fatalismus. Und Agnes BALTSA kann singen, was ihre Carmen ist; ihre Stimme
ermöglicht jede Nuance, von der Habanera als Chanson zum lauernden Unterton
in der Seguidilla: ein Panther, der sich streckt und nur spielerisch die
Krallen zeigt — Amüsement und zorniger Fortissimoausbruch, unverhohlene
Sinnlichkeit, Langeweile und Verachtung — und jeder Ton in der Wahrheit noch
schön. José CARRERAS ist Agnes Baltsas singulärer Carmen ein Partner: sein
Baske ist jung und romantisch, ein begreifbarer Magnet für Carmens Gefühle,
später neurotisch, eifersüchtig, zerstört: und diesen Passionsweg läßt er
stimmlich erleben, ein dramatischer, aber auch zärtlich, verträumter
Liebhaber. Er hat sogar Lyrik und sublime Piani für die Begegnung mit
Micaela. Janet PERRY profitiert davon, denn sie zirpt ohne rechte Wärme und
glanzarm. Escamillo muß nicht mehr sein als ein wuchtig singender Geck; damit
allerdings steht oder fällt die Rolle. Sie fiel mit José van Dam:
stimmschwach, temperamentlos. Als er in die Arena schritt, zitterte man um
sein Leben: der Stier wird siegen, nicht der Toreador. Gut, kaum brillant die
Nebenrollen. Der Chor erzeugte duftige Piano-Klangwolken, nicht einmal im
Werbesong der Zigarettenindustrie Nikotinschwaden: „Carmen“ für Nichtraucher. Auch im 77. Lebensjahr ist Herbert von KARAJAN für Lernprozesse
aufgeschlossen: erstmals „Carmen“ in der Urfassung, mit den blank
zustechenden Dialogen. Dem Verzicht auf Guirauds nach Bizets Tod
hinzukomponierte Rezitative entspricht auch seine Inszenierung: in Gegensatz
zu der „Großen Oper“, als die er „Carmen“ 1966 in abenteuerlicher Opulenz
zeigte, bildet nun das Schicksal der Liebenden unverstellt den dramatischen Mittelpunkt.
Natürlich erlaubt die Salzburger Riesenbühne kein Kammerspiel, und es
erscheint wenig sinnvoll, alljährlich aufs neue über „Gigantomanie“ zu
zetern. Aber das kunstvoll unaufdringlich individualisierte Statistengewimmel
(„Alltag in Andalusien“) überwuchert nicht mehr das Eigentliche, auch die
konzentrierenden und malerisch Atmosphäre schaffenden Szenerien von Günther
SCHNEIDER-SIEMSSEN lassen die Oper nicht in einen Breitwandnaturalismus
explodieren. Sogar das Ballett war einigermaßen sinnvoll integriert, vor
allem wegen Carmens geschicktem Einbezug. Herbert von Karajan erzählt ohne Interpretenhochmut schlicht „Carmen“,
plausibel, im Detail anfechtbar — man darf sich entrüsten, daß Escamillo sich
im Etablissement Lillas Pastias von den Schönen der Nacht mit Handkuß
verabschiedet wie in einem Wiener Kaffeehaus, auch würden wohl Schmuggler am
offenen Meer nicht Feuer entfachen, die englischen Touristen im ersten Bild
sind so überflüssig wie die stummen, durch nichts aus der Ruhe
aufzuscheuchenden Zecher in der Nobelkneipe .... aber auf Regiekosten kommt
man ja in der Bundesrepublik Deutschland allerorten. Man ist ja schon gar
nicht mehr gewöhnt, daß das Drama vorwiegend in Stimmen und Orchester
stattfindet wie hier in Salzburg. Im Anfang — und dann immerfort — war der
Rhythmus, rassige spannungsgeladene Bewegung auch in den Passagen, die der
Dirigent weit langsamer nahm als „feurige‘ Kollegen. Blühendes Melos ohne
Zucker, schlanke Kantilene, pointiert die Couplets, das Schmuggler-Quintett
federnd elegant, effektvoll gesteigert von der hitzedumpfen Lässigkeit bis
zur wilden Raserei die Tanzszenen. faszinierend kontrastiert Karajan Intimität und vitale Volksszenen,
bei denen er mit knalligen Akzenten nicht knausert, um sofort wieder zur
Seelen-Kammermusik zurückzufinden. Mit dem Wunderorchester der BERLINER
PHILHARMONIKER gab er der oft maltraitierten Partitur ihren Rang zurück. Das
Publikum war überglücklich, daß der Maestro sein Versprechen gehalten hat,
wieder einmal spanisch zu kommen. |
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