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Orpheus 1/1975

Opernbrief aus Amerika -

Auszug: NYCO - Lucia di Lammermoor - August 1974

 

Da die Höhepunkte in den ersten Monaten der Met-Saison dünn gesät waren, mußte man sich auf die andere Seite des Lincoln Center begeben, wo die New York City Opera unter ihrem einfallsreichen Chef JULIUS RUDEL eine viel reichhaltigere Auswahl bot. Gewiß, auch in der City Opera gibt es Vorstellungen. die am besten vermieden werden, viele junge Sänger machen hier ihren Start. und nicht jeder hält, was man erwartet. Doch das Repertoire ist so verlockend ungewöhnlich, außerdem sind die Preise um die Hälfte niedriger als in der Met. Kein Wunder, daß die City Opera ein besonders anhängliches Stammpublikum gefunden hat.

 

Die Saison begann glanzvoll. BEVERLY SILLS und JOSÉ CARRERAS brillierten als das unglückliche Liebespaar Lucia von Lammermoor und Edgardo von Ravenswood. Ich glaube, es gibt heutigentags keine andere Sängerin und kein anderes Theater, die so miteinander harmonieren. wie die Sills mit der City Opera. Die Klugheit des klardenkenden und weitsichtigen Julius Rudel ist der Grund, daß New York die Sängerin in einer schier unglaublichen Vielfalt von Rollen erleben und bewundern konnte. In dieser Herbst-Saison allein sang sie das Dreigestirn der Donizetti-Tudor-Königinnen in „Roberto Devereux“, „Anna Bolena“ und „Maria Stuarda“‘ außerdem „Lucia di Lammermoor“ und Bellinis „I Puritani“. Die Lucia in TITO CAPOBIANCOS interessanter Inszenierung von 1969 war eine richtige Schauermär, ganz auf die Romantik von Walter Scott angelegt, sogar mit Hexen - direkt aus dem „Macbeth“ — ausgestattet. Eine nebelverhangene Schwere lastete über den Szenen, daß es verständlich schien, Lucia gleich von Anfang an leicht angeschlagen, ein bißchen verrückt zu sehen. Sie klammerte sich mit einer Hysterie an Edgardo, trat ihrem Bruder in brütender Verzweiflung entgegen, schien dann beim Sextett ihre Sinne bereits verloren zu haben, daß die Wahnsinns-Szene als logische Folgerung ihr allzu kurzes Leben ‚krönte‘. Das war also die eigenwillige Lucia der Beverly Sills. Sie sang mit ihrer gewohnten Bravour, hatte jedoch manchmal Schwierigkeiten mit den interpolierten Spitzentönen über dem hohen C. Eine Sensation im wahrsten Sinne des Wortes bot der junge spanische Tenor .José Carreras, der 1972 ohne Fanfare seine internationale Karriere an der New Yorker City Oper begann. Seine lyrische Stimme mit dem samtigen Timbre klingt sicher in allen Lagen, er besitzt eine außergewöhnlich hohe Musikalität, sieht blendend aus und spielt mit Überzeugung. Ein Bariton aus Puerto Rico, PABLO ELVIRA als Enrico Ashton sang mit bestem .....und beeindruckte durch seine geschmeidige Stimme — ein wichtiger Gewinn für die City Opera, während der aus Italien importierte MAURIZIO MAZZIERI mit hölzernem Baß und steifem Spiel (in der Wahnsinns-Szene mußte ihm die Sills den Dolch geradezu unter seine Nase halten, damit er ihr ihn endlich fortnahm) doch ein trauriger Versager war. Und ausgerechnet in dieser Inszenierung gab man die Rolle des Raimondo ohne Striche!