Opernwelt 8-9/1984 |
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Carmen - Orange Festival |
Bizets «Carmen» |
Die Carmen-Saison 83/84, geprägt durch die
Verfilmungen Saura/Gades‘ und Rosis, durch Karajans und Maazels
Neueinspielungen, durch zahlreiche Aufführungen von Bizets Meisterwerk,
konnte nicht vor Verona und Orange haltmachen. Was Orange betrifft — glücklicherweise. Ein anderer französischer Regisseur, Strassbourgs Intendant René
Terrasson, fand einen szenischen Weg, der das Théâtre antique mit dem Drama
Bizets und Mérimées verschmolz: auf dem Halbrund der Bühne ließ Terrasson das
Ganzrund der antiken <Orchestra> nachbauen und grenzte diese seitlich
mit aufsteigenden Chorreihen ein; schwarzgekleidetes Volk war Zeuge des sich
zuspitzenden Geschehens, welches durch die zentrale Lage des Spielkreises
besonders exponiert war. Trotz dieser fast formellen Strenge verstand es
Terrasson, die Volkstümlichkeit der Oper einzuflechten. Das Drama um Don
José, Carmen und Micaela grenzte sich deutlich von der Unverbindlichkeit der
Schmuggler, Soldaten und von Escamillo ab; und die Riesenwand des Théâtre
antique mit einem zentralen hohen, knarrenden Gitter wurde zu einer
schicksalshaften Mauer, vor der die tragische Entwicklung der drei wie der
Öffentlichkeit preisgegeben wirkte. Unverständlich auch hier die Reaktion eines Teils des Publikums: die
vorbeireitenden Pferde beim Aufmarsch der Toreadors im letzten Akt wurden
beklatscht; der sich ganz auf die Tradition berufende und frei von jeder
Künstlichkeit zu einer Synthese fähige Regisseur wurde jedoch teilweise
ausgepfiffen. Einige Unbelehrbaren im Publikum behandelten den französischen
Dirigenten Jean-Claude Casadesus und sein stets präsentes, sonor klingendes
und genau spielendes Orchestra National de Lille auf dieselbe Art. Dieser
Teil des Publikums ist außerstande, zu erkennen, daß hier ein
(französischer!) Operndirigent Hervorragendes leistete: die Präzision seiner
Einsätze, sein immer gezügeltes südliches Musikertemperament, die
Feinfühligkeit seiner Sängerbegleitung und der kluge Aufbau musikalischer
Bewegungsabläufe wurde zu Recht von den Sängern und dem Großteil des Publikums
gewürdigt. Das Sängerensemble — subtil in Timbre und Erscheinung aufeinander
abgestimmt — sang unter Casadesus‘ Leitung sicht- und hörbar «á l‘aise» und
inspiriert. Die Polin Stéfania Toczyska verlor schnell ihre anfängliche
Distanz zur Rolle und fand zu einer stimmlichen und darstellerisch rassigen
und dann tragischen Deutung der Rolle.
Selten wurde Carmens Antipol Micaëla so deutlich erkennbar wie durch
die Präsenz — stimmlich und darstellerisch — der Sopranistin Barbara
Hendricks. Ihre sich behauptende Weiblichkeit grenzte Carmens Wirkungsfeld
ab. Beglückt über diese nach innen wirkende musikalische Kraft wird einem
schmerzhaft bewußt, was Karajan in seiner letzten Carmen-Einspielung versäumt
hat: sein Ensemble Baltsa-Carreras-van Dam hätte dringend dieser Sängerin
bedurft, um ein stimmlich-dramatisches Gleichgewicht herzustellen. Die
Leistung der Hendricks war um so höher zu veranschlagen, als sie im Duett mit
José und in ihrer Arie gegen den Mistral anzusingen hatte. Ohne zu forcieren,
wurde sie, dank der Intensität, mit der sie singt, in jeder Nuance gehört. José Carreras Don José war — mit der Hendricks — zentrale Figur des
Geschehens, tragischer Mittelpunkt, dank seines intelligenten und doch
emotionellen Spiels (Carreras' José ist trotz seiner Einfachheit stolz und
nobel), und dank dem berückenden Timbre seines Tenors, welcher sich, je
größer ein Raum, zu einem unvergleichlichen Instrument entwickelt; und die
gar nicht so sichere, ja oft brüchige Höhe scheint so völlig in seine
Gesangslinie integriert. José van Dam brachte als Escamillo jene Selbstverständlichkeit und
Unverbindlichkeit ins Drama ein, die dieser doch peripheren Rolle zusteht.
Hier hätten Regisseur und Sänger jene Erkenntnis aufgreifen und szenisch
umsetzen können, die Francesco Rosi so meisterhaft und für die Zukunft
unumgänglich in seinem Carmenfilm markiert hat: die hoch-bürgerliche
Anlehnung dieses ans Töten gewöhnten Einsamen zeigen, der für Carmen
«ausbricht», um sich wieder nahe zu sein. Regieliche und darstellerische Mittel
wären vorhanden gewesen, um aus dieser Rolle mehr als nur eine Episode zu
machen. Doch van Dam‘s singuläres Können sang und spielte schnell über diesen
verlockenden Hintergedanken weg, mit seiner bronzenen Stimme, mit der
Natürlichkeit seiner Künstlerpersönlichkeit großer Klasse. Die Nebenrollen waren bei den Herren gut (vor allem Yves Bisson),
Frasquita und Mercedes jedoch schwächer besetzt, besonders Lucia Scappaticcis
schrille und nicht saubere Höhe störte in den sonst sicheren Ensembles. Zum Luxus dieser beiden Aufführungen gehörte der für provinçale Nächte
so störend-typische Mistral genauso wie der sternenbestückte südliche Himmel;
und ohne daß ein Inszenator sich je mit diesen Elementen befaßt hätte,
gehören sie zum Spiel, wie wenn Verdi oder Bizet sie einkomponiert hätten. |
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