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Oper und Konzert 5/1984

Simon Boccanegra

STAATSOPER WIEN

 

Neu ist hier die künstlerische Verschmelzung von Bühne und Musik, der Schritt von der Belcanto-Oper zum Musikdrama. Die intensive Verdichtung des Orchesters, eine Differenzierung des gesanglichen Melos, vor allem aber das großartig nachkomponierte Finale des ersten Aktes veranlaßten schon Richard Strauss, „Simon Boccanegra“ als wichtiges Werk in Verdis Schaffen zu bezeichnen. Wie recht er hatte, beweist Claudio Abbado auch jetzt in Wien mit einer musikalisch meisterhaft abschattierten, psychologisch konsequent gesteigerten Dramatik, die ihre Höhepunkte in der monumentalen Durchgestaltung der Blechbläser mit dem martialischen Unisono-Motiv erhält, die aber auch den Gegensatz zwischen den dunklen Männerstimmen des Prologs und der Liebesszene im Garten der Grimaldi subtil herausarbeitet. Hier spürt man die zarte Elegie poetischer Naturmalerei, hier bricht aber auch dramatische Wahrhaftigkeit durch. Die Behandlung der Fernchöre in geheimnisvoller Düsternis macht erschauern, und den erzwungenen Fluch Paolos auf sein eigenes Haupt unterstreicht ein breitgefächertes Orchesterspektrum mit elementarer Wucht. Sowohl die Morgendämmerung in delikater Mixtur von Bratschen und Holzbläsern als auch der langsame Tod Boccanegras vollziehen sich im Vibrato der Instrumentalisten weit eindringlicher als im Bühnengeschehen. Claudio Abbado, dem künftigen Musikdirektor der Wiener Staatsoper, ist der große Erfolg des Abends zu danken.

Mit dem musikalischen Ereignis kann die Inszenierung nicht Schritt halten. Was Ezio Frigerio als Bühnenbildner von der Mailänder Scala nach Wien transferierte, ist in konstanter Dunkelheit oft schwer erkennbar und stilistisch nicht einzuordnen. Nächtliche Außenfront und kaum erhellter gotischer Innenraum des Genueser Dogenpalastes vermitteln fälschlicherweise Kirchenillusionen, der Ratssaal mit gestaffelten Sitzreihen erinnert an die „Singschul“ nach Art der Meistersinger. Die Hintergrundsbeleuchtung erschwert die Erkennbarkeit der Gesichter (eine beliebte, jahrzehntelang strapazierte ‚Masche“ Strehlers), das malerische Schiff als Abschluß der Grimaldi-Gärten gibt nur ein starres Postkartenambiente, und der Tod des Simon am Hafen in den Seilen eines überdimensionalen Segels, langsam auf- und niedergezogen, erhält eine vollends unglaubhafte Ausdeutung. Giorgio Strehlers Regie beschränkt sich auf sparsame Personenführung und betont knappe Lichtregie. Nur die Protagonisten bekommen gelegentliche Punktscheinwerfer als dramatische Akzente, während die Umgebung im Dunkeln versinkt. Die Aktionen des Chores scheinen groß im Anlauf beim Beginn tumultuarischer Waffengänge, werden aber in der Bewegung abgefangen und stilisiert. Dadurch wird jede ausladende Geste in ihrem Verlauf reduziert und steht im Kontrast zum lodernden Orchesterpart.

Es gibt noch diverse szenische Ungereimtheiten: beispielsweise den stelzbeinigen Pagen mit hinterlistigem Blick, dessen giftmischerische Funktion nicht einmal perfekte Textkenner begreifen können. Auch die fast völlige Kostüm- und Maskengleichheit von Boccanegra und Fiesco geben einen ganzen Abend lang personelle Rätsel auf.

Um ein gerechtes Urteil über die Stimmen abzugeben, muß man diesen „Boccanegra“ mehrere Male erleben. Unpäßlichkeiten trüben fast bei jeder Aufführung den Gesamteindruck Veriano Lucchetti vertrat mit Mut und kühnen Attacken den vor der Premiere erkrankten José Carreras. Zur zweiten Vorstellung genesen, brachte dieser Schmelz und Gefühl in blühende Kantilenen mit einem Hauch von Schwermut, aber auch heldisches Brio in das emphatische Engagement seiner Gefühle. Nun aber war es Katia Riccarelli, die sich wegen Indisposition entschuldigen ließ. Zwei Tage zuvor hatte sie noch eine edle, in ihren Aktionen etwas bläßliche Amelia gestaltet. Ihre Domäne sind die feinen Schwelltöne, vor allem in der hohen Lage. Sie gelangen bestechend, während Mittellage und Tiefe oft füllige Substanz vermissen ließen. Ruggiero Raimondis Fiesco trübte Premieren-Nervosität. In der folgenden Vorstellung entfaltete er stimmliche und darstellerische Brillanz. Felice Schiavis Paolo klang zwar markig, doch glanzlos: sein Spiel war von roher Unbehauenheit. Nur Renato Bruson als Boccanegra meisterte seine Rolle uneingeschränkt prachtvoll und ausdrucksstark. Voll Wärme und menschlicher Anteilnahme bot er eine überzeugende Charakterstudie, seine große Sterbeszene, ein langsames Verlöschen, machte betroffen.

Trotz mancher Einschränkungen hatte Verdi in Wien das, was er sich für seinen „ Boccanegra“ sehnlichst wünschte, „ein Publikum, das zuhören will.“ Es feierte den Komponisten mit stürmischem Applaus. Dr. lrene-Marianne Kinne