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Opernwelt 3/1983

 

Perfekte Symbiose

Giordanos «Andrea Chénier» an der Mailänder Scala

 

Seit 22 Jahren war Umberto Giordanos Oper «Andrea Chénier» nicht mehr auf dem Spielplan der Scala gestanden, nachdem in den Aufführungen der Jahre 1955 und 1960 immerhin Sänger vom Range einer Callas und Tebaldi, eines del Monaco und Corelli, eines Protti und Bastanini zu hören gewesen waren. Die Neuinszenierung von Lamberto Puggelli wurde daher mit großem Interesse erwartet.

Puggellis Regie — in den traditionellen, sehr schön gestalteten Bühnenbildern von Paolo Bregni —baut nicht auf Experimente. Er erzählt die Geschichte bildhaft, fängt die tragische Atmosphäre dieser Oper treffend ein. Das Bewußtsein des Todes ist stets präsent, bereits beim rauschenden Fest des ersten Aktes im Schloß der Gräfin Coigny. Im zweiten Akt wird sie gar unmittelbar greifbar — durch eine überdimensionale Guillotine.

Im Dirigenten Richard Chailly fand Puggelli einen kongenialen Partner. Er drang meisterhaft in die Musik ein, spürte die Farben der Hoffnungslosigkeit und der Trauer in ihr auf, setzte dramatische Akzente neben Momente lyrischer Poesie. Man kann von einer perfekten Symbiose von Musik, Regie und Bühnenbild sprechen.

José Carreras in der Titelpartie befand sich in großer Form. Dies betrifft vor allem seine Stimme —nach «Un di all‘azzurro spazio guardai profondo», aber auch nach «Si, fu soldato» brach das Publikum in Ovationen aus, wie man sie an diesem Haus nicht oft erlebt. Aber auch in der darstellerischen Gestaltung des Schicksals dieses französischen Freiheitsdichters konnte er überzeugen.

Anna Tomowa-Sintow sang eine sehr lyrische Maddalena, gestaltete die Rolle ausdrucksstark und zugleich mit mädchenhaftem Charme. Großartig Piero Cappuccilli in der Partie des Gérard — er zeigte alle Nuancen der Entwicklung dieses Mannes vom hassenden Menschenverächter, Rivalen zum Erkennenden und Verzichtenden. Auch er stand im Mittelpunkt der Ovationen eines begeisterten Publikums.

Kathleen Kuhlmann als Bersi und Laura Londi als Contessa di Coigny konnten gesanglich wie darstellerisch überzeugen. Hervorzuheben die Bühnenpräsenz und die kraftvolle Stimme Franco Federicis als Roucher.

Erwähnenswert noch der großartige Chor der Scala unter Romano Gandolfis Leitung. Luisa Spinatelli hatte alle Darsteller in kostbare Kostüme gekleidet. Ungetrübter Jubel des Publikums am Schluß.
Christina Mai
GIORDANO: «Andrea Chénier». Premiere am 23. Dezember 1982. Musikalische Leitung: Riccardo Chailly; Inszenierung: Lamberto Puggelli; Bühnenbild: Paolo Bregni; Kostüme: Luisa Spinatelli; Chöre: Romano Gandolfi. Solisten: José Carrerras (Andrea Chénier), Piero Cappuccilli (Carlo Gérard), Anna Tomowa-Sintow (Maddalena), Kathleen Kuhlmann (Bersi), Laura Londi (Contessa di Coigny), Franco Federici (Roucher) u. a.