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Neue Zeitschrift für Musik, Februar 1983

 

Die gepflegte Revolution

Giordanos „Andrea Chenier“ als Weihnachtspremiere an der Mailänder Scala

 

Innerhalb von zwei Wochen erlebte die Mailänder Scala mit den beiden Neuinszenierungen von Verdis Ernani und Giordanos Andrea Chenier die frühen Höhepunkte einer mit 47 Vorstellungen eher dürftigen Saison. Drohte Verdis Frühwerk inzwischen trotz protzig-sinnloser Bühnenbilder und hilfloser Regie durch Riccardo Mutis musikalische Leitung und das perfekte Sängerensemble (Freni, Domingo, Bruson, Ghiaurov) zum unbestrittenen Erfolg geworden — in der Eröffnungsvorstellung zeitweilig in dem vom noblen Publikum zu dieser Gelegenheit stets gerne angezettelten Tumult unterzugehen, wurde nun das Augen und Ohren wohlgefällig aufbereitete Revolutionsdrama Umberto Giordanos am Vorabend des 24. Dezember mit einhelliger Begeisterung aufgenommen. Jetzt, da die Roten Brigaden weniger von sich hören lassen, scheint die Revolte sich in die Opernhäuser zu verlagern, zumindest in Mailand: nachdem in Verdis grandiosem Schauerstück Ernani dumpfe Eide murmelnde Verschwörer dem frisch gewählten Kaiser des Heiligen Römischen Reiches nach dem Leben trachteten, brach die Französische Revolution über die Riesenbühne der Scala herein. Andrea Chenier, zu einem dramaturgisch sehr wirksamen Text Luigi Illicas komponiert und 1896 im gleichen Jahr wie La Bohème uraufgeführt, gehört zu den wenigen Opern des italienischen Verismo, die neben Puccini bis heute überlebt haben. Eine Oper, die sich jetzt schon fast neunzig Jahre im internationalen Repertoire hält, muß beträchtliche Meriten haben, und die besitzt Andrea Chenier: eine zwar grundsätzlich lyrische, aber häufig ins Heldische vordringende Tenorpartie, eine Baritonrolle, in der für das subtile Changieren zwischen Gut und Böse dem Sänger beträchtliche psychologische Raffinesse abverlangt wird und schließlich eine, zwischen den beiden rivalisierenden, aber am Ende doch versöhnten Männern stehende Sopranistin, die, wie ihr Tenor-Liebhaber, über die ganze Bandbreite vom Lyrischen bis zum Hochdramatischen verfügen können muß. Die dramatischen Höhepunkte sind geschickt über die vier Akte verteilt, wobei der erste Akt, der das dekadente Treiben der Aristokraten direkt vor Ausbruch der Revolution zeigt, am dürftigsten ausgefallen wäre, hätte nicht Giordano seinem Titelhelden gerade hier jenen Appell an die Mitmenschlichkeit in den Mund gelegt, der zum berühmtesten „Schlager“ der Oper wurde, das „Improvviso“ (Un di all‘azurro spazio ...). Die Instrumentierung ist gekonnt und schreckt vor grellen Kontrasten, wie in der Gegenüberstellung einer pastellfarbenen, neoklassizistisch getönten Tanzmusik und finsteren Klängen eines Revolutionsmarsches, nicht zurück. Im Textbuch des „Prinzen der italienischen Librettisten“ der Jahrhundertwende, Illica, vereinen sich ein konservativer, an d‘Annunzio angelehnter Decadentismo (die jubelnde Todesverherrlichung am Schluß der Oper, Viva la morte insieme!) mit eher nebulös idealistischen Elementen einer humanitären Lebensphilosophie, die vom Titelhelden, dem Dichter Chenier — der wirklich existierte und geköpft wurde — besungen werden. Ähnlich ungerecht wie die Verurteilung des Dichters durch das Revolutionstribunal erscheint die zwiespältige, eher geringschätzig bis wohlwollend-herablassende Aufnahme, die das Werk bei seinem ohnehin seltenen Erscheinen im deutschsprachigen Raum erfährt. Die hierzulande überwiegend negative Betrachtung des tatsächlich eher verdunkelnden als erhellenden Begriffes Verismo mag das Ihre dazu beigetragen haben. Die Weihnachtspremiere an der Scala wäre durchaus dazu angetan, Skeptiker eines Besseren zu belehren, obwohl auch der jüngste Supermaestro Italiens, Riccardo Chailly, den Effekten der Oper zu mißtrauen schien. Sein Dirigat wirkte zurückhaltend und glättend, die revolutionären Töne kamen trotz aller orchestralen Brillanz so gedämpft, daß sie die Aristokraten im Salon kaum von ihrer Gavotte abgehalten hätten.

Das weitgehend realistische Konzept des Inszenierungsteams Lamberto Puggelli (Regie), Paolo Bregni (Bühnenbild) und Luisa Spinatelli (Kostüme) wurde an den geeigneten Stellen um eine symbolische Komponente bereichert; so versank im ersten Akt das tanzende Aristokratentum beim Erklingen des Revolutionsmarsches im Boden, um einer drohenden Proletariermasse Platz zu machen, die aus einer kalten, freilich ein wenig zu dekorativ geratenen Winterlandschaft auf die Rampe zuschritt. Besonders eindrucksvoll die Aufteilung der Bühne in ein Oben und Unten im zweiten Akt, die eine überzeugende Eingliederung des privaten Dramas in das allgemeine Revolutionsgeschehen erlaubte. Die Regie mied jede karikierende Darstellung, auch dort, wo sie sich, wie in der klischeehaften Überzeichnung des Revolutionspöbels durch Illica und Giordano, angeboten hätte.

Andrea Chenier gehört mit seinen Ausflügen ins heroische Fach zweifellos zu den Randpartien des spanischen Tenors José Carreras, der an diesem Abend aber, ohne forcieren zu müssen, eine in gesanglicher und dramatischer Hinsicht überzeugende Interpretation der schwierigen Rolle bot. Ihm unterlegen war die vor allem im lyrischen Bereich beeindruckende Anna Tomowa-Sintow, der jedoch der zweite Teil ihrer großen Arie im zweiten Akt aufgrund ihres im Forte ausufernden Vibratos mißriet. Daß dennoch bei ihrem Erscheinen vor dem Vorhang sich nur einige leise Buhs in den ungetrübten Jubel mischten, war der vorweihnachtlichen Milde des Publikums zuzuschreiben. Piero Cappuccilli vermochte in seiner Glanzrolle des Gérard zwar immer noch zu überzeugen, aber die Stimme ist müde geworden, die dramatischen Akzente, die vor allem der Monolog Nemico della patria verlangt, bleiben aus, alles in allem eher ein Salonrevolutionär. Mailand erlebte kurz vor Weihnachten eine gepflegte Revolution.