Orpheus 4/1983 |
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Carmen - London |
AGNES BALTSAS CARMEN |
Nach
mehreren erfolgreichen Auftritten (Cherubino, Dorabella, Rosina, Adalgisa und
Giulietta) krönte AGNES BALTSA am Opernhaus Covent Garden ihre Londoner
Triumphe mit ihrer eigenwilligen, aber überzeugenden Interpretation der Carmen
(22. 2.). Sie spielt kein mondänes vamphaftes „Muttertier“, sondern ist ein
schlankes, burschikoses junges Mädchen voll maßloser Lebenslust und
unbändigem Freiheitsdrang. Bei Merimee ist Carmen eine fast zwanghafte
Lügnerin mit bösartigen Zügen; Agnes Baltsa verleiht ihr stattdessen eine
naive Kindlichkeit, die jenseits von Gut und Böse steht. Gleichzeitig
vermeidet sie (von ihrem Go-Go-Girl-Gehabe im Kastagnettentanz abgesehen) die
hüftenschwenkenden Allüren, die viele Kolleginnen ihres Fachs für erotisch
halten; ihre Faszination besteht vielmehr in dem herben Reiz ihrer
ungezähmten Wildheit. Als sie Escamillo begegnet, verfällt sie ihm bis zur
totalen Hörigkeit: ihr „Je suis amoureuse“ im Schmugglerquintett ist
spielerisch, ironisch; ihre Liebeserklärung an Escamillo im 4. Akt ist
zutiefst aufrichtig. Stimmlich meistert Agnes Baltsa diese Partie in allen
Lagen: vom (manchmal allzu großzügig eingesetzten) Brustregister bis zur
hohen Tessitura des Schlußduetts. Ihr „Bezwinger“, Escamillo, wurde von
BENJAMIN LUXON leider nicht eben überzeugend verkörpert; sein spröder Bariton
hatte darüber hinaus weder die Durchschlagskraft für das Torerolied noch den
nötigen Schmelz für ;‚Si tu m‘aimes“. JOSE CARRERAS (Don José) war zunächst
ein eher dekoratives Element der Aufführung: er hat zwar das Äußere eines
„beau dragon“, aber nicht das Temperament. In den ersten drei Akten blieb er
der Rolle fast alles schuldig und tat dann im Schlußduett des Guten allzuviel
(Agnes Baltsa leider auch). Stimmlich wurde er der Partie bei der Premiere
leider ebenso wenig gerecht: er klang müde und angestrengt und sang in der
übelsten „italienischen“ Manier, komplett mit Falsett, Schluchzern und
Rubato. Rein musikalisch war dagegen LEONA MITCHELL ungleich überzeugender:
nach einem etwas belegten 1. Akt entfaltete sie in Micaelas Arie und im 3.
Finale einen frischen, blühenden Sopran mit klarer, sicherer Höhe und
erstaunlichem dramatischem Potential. Leider passen ihre selbstbewußten
Primadonnengesten nicht zu einem 16jährigen Bauernmädchen. Alle übrigen
Charaktere waren ebenso wie der geschickt geführte Chor (die Tenöre bedürfen
einer Verjüngungskur) scharf profiliert und tadellos gesungen, lediglich
ELIZABETH ROBSON fiel mit ihrem „schrillen“ Sopran als Frasquita unangenehm
auf. COLIN DAVIS gab im 1. Akt nur eine routiniert-kapellmeisterliche
Begleitung, wobei er bei seinem unbarmherzigen „alla breve“-Schlag viele
Details überspielte. Die weiteren drei Akte waren sorgfältiger durchdacht,
die Dynamik wurde differenzierter, und das Orchester spielte mit spürbarem
Engagement. Gerade die oft überstrapazierten „Schlager“ der Oper klangen
frisch und interessant, etwa die nuancenreiche Begleitung der Blumenarie, das
elektrisch geladene „Les tringles des sistres“ oder der spannungsvolle
‚geschickte Aufbau des Kartenterzetts. MICHAEL GELIOTS solide, traditionelle,
detailfreudige Inszenierung mit ihren reizlosen, rein funktionellen
Bühnenbildern war vom Regisseur selbst für diese Wiederaufnahme umgearbeitet
worden; nach anfänglichen Experimenten mit der Oeser-Ausgabe und Guirauds
Rezitativen wurde jetzt Choudens‘ Fassung mit den (leider stark gekürzten)
Sprechdialogen gewählt. |
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