Das
wunschlose Glücksgefühl stellte sich in der dritten der von Karajan
dirigierten Opern ein, in der «Bohème». Zeffirellis Inszenierung mit dem von
Menschen wimmelnden Boulevardbild, mit der atmosphärisch so starken Szene am Zollhaus,
mit ihrer behutsamen Personenregie ist frisch wie am ersten Tag, was der
tüchtigen Auffrischungsarbeit von Peter Busse zuzuschreiben ist. Als Rudolf
hörte man einen Tenor, wie man ihn schon seit Jahren nicht mehr erlebte: José
Carreras, einen Meister der Phrasierung, einen Künstler, der gleichermaßen
Technik und Gefühl auszuspielen versteht und dazu noch rollendeckend
aussieht. Gleiches Lob, ins Feminine gewendet, gebührt Mirella Freni als
Mimi. Rolando Panerai ist für mich schon seit Jahren — seit wie vielen? — der
Prototyp des italienischen Baritons, dessen technische Sicherheit ihm völlige
Freiheit in Spiel und Gesang ermöglicht. Seine Partnerin Musette gehört als
einzige Sängerin der Stagione zum ständigen Ensemble der Staatsoper — gewiß
keine geringe Ehre für Renate Holm, die sich ihrer Aufgabe durchaus gewachsen
zeigte. Auch hier waren die kleinsten Partien mit hausfremden Künstlern
besetzt. Die Tendenz zur Wiedergabe «wie aus einem Guß» wäre an solch
winzigen Details kaum gescheitert.
Das Wesentliche an diesem
Abend war aber wieder die Führung der Sänger und des Orchesters durch
Karajan: in noch höherem Maße als im «Troubadour» gelang es ihm, die maximale
Disziplin mit maximaler Gelöstheit der Sänger-Darsteller zu verbinden und in
der Musik jene federne Spannung zu erzeugen, die das Metrum vergessen läßt,
die es zu einem im Hintergrund des Rhythmus lediglich als technische Hilfe
wirkenden Werkzeug macht. Dazu eine dynamische Phrasierung, die jeder Flexion
der Haupt- und Nebenmelodien mit Wärme und Intensität nachgeht und es dabei
doch fertigbringt, ohne jede Sentimentalität den Eindruck von Ehrlichkeit zu
erzielen. Karajan hat sich an diesem Abend selbst übertroffen, eine jener
seltenen Sternstunden beschert, die in der Erinnerung des Opernfreundes
weiterleben und dann beide den Maßstab abgeben, mit dem der Opernalltag
gemessen wird. Aber: Feiertage kann es nicht immer geben. Und das Wissen um
die erreichbare Möglichkeit von Höhepunkten der Interpretation sollte nicht
den Wert des Repertoire-Theaters in den Schatten stellen. So besehen, hat die
Karajan-Stagione im Rahmen der Opernsaison gewiß Sinn und Berechtigung
nachgewiesen.
Rudolf Klein
PUCCINI: "La BOHÈME" Premiere am 20. Mai 1977. Dirigent: Herbert von
Karajan; Inszenierung und ,Bühnenbild: Franco Zeffirelli; Kostüme: Marcel
Escoffier. Solisten: José Carreras (Rodolfo) Gianni Maffeo
(Schaunard), Rolando Panerai (Marcel), Paolo Washington (Collin), Claudio
Giombi (Benois), Mirella Freni (Mimi) Renate Holm (Musette), u. a.
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