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Opernwelt Juli/1977

«La Bohème»

 

Wien

Das wunschlose Glücksgefühl stellte sich in der dritten der von Karajan dirigierten Opern ein, in der «Bohème». Zeffirellis Inszenierung mit dem von Menschen wimmelnden Boulevardbild, mit der atmosphärisch so starken Szene am Zollhaus, mit ihrer behutsamen Personenregie ist frisch wie am ersten Tag, was der tüchtigen Auffrischungsarbeit von Peter Busse zuzuschreiben ist. Als Rudolf hörte man einen Tenor, wie man ihn schon seit Jahren nicht mehr erlebte: José Carreras, einen Meister der Phrasierung, einen Künstler, der gleichermaßen Technik und Gefühl auszuspielen versteht und dazu noch rollendeckend aussieht. Gleiches Lob, ins Feminine gewendet, gebührt Mirella Freni als Mimi. Rolando Panerai ist für mich schon seit Jahren — seit wie vielen? — der Prototyp des italienischen Baritons, dessen technische Sicherheit ihm völlige Freiheit in Spiel und Gesang ermöglicht. Seine Partnerin Musette gehört als einzige Sängerin der Stagione zum ständigen Ensemble der Staatsoper — gewiß keine geringe Ehre für Renate Holm, die sich ihrer Aufgabe durchaus gewachsen zeigte. Auch hier waren die kleinsten Partien mit hausfremden Künstlern besetzt. Die Tendenz zur Wiedergabe «wie aus einem Guß» wäre an solch winzigen Details kaum gescheitert.
Das Wesentliche an diesem Abend war aber wieder die Führung der Sänger und des Orchesters durch Karajan: in noch höherem Maße als im «Troubadour» gelang es ihm, die maximale Disziplin mit maximaler Gelöstheit der Sänger-Darsteller zu verbinden und in der Musik jene federne Spannung zu erzeugen, die das Metrum vergessen läßt, die es zu einem im Hintergrund des Rhythmus lediglich als technische Hilfe wirkenden Werkzeug macht. Dazu eine dynamische Phrasierung, die jeder Flexion der Haupt- und Nebenmelodien mit Wärme und Intensität nachgeht und es dabei doch fertigbringt, ohne jede Sentimentalität den Eindruck von Ehrlichkeit zu erzielen. Karajan hat sich an diesem Abend selbst übertroffen, eine jener seltenen Sternstunden beschert, die in der Erinnerung des Opernfreundes weiterleben und dann beide den Maßstab abgeben, mit dem der Opernalltag gemessen wird. Aber: Feiertage kann es nicht immer geben. Und das Wissen um die erreichbare Möglichkeit von Höhepunkten der Interpretation sollte nicht den Wert des Repertoire-Theaters in den Schatten stellen. So besehen, hat die Karajan-Stagione im Rahmen der Opernsaison gewiß Sinn und Berechtigung nachgewiesen.
Rudolf Klein
PUCCINI: "La BOHÈME" Premiere am 20. Mai 1977. Dirigent: Herbert von Karajan; Inszenierung und ,Bühnenbild: Franco Zeffirelli; Kostüme: Marcel Escoffier. Solisten: José Carreras (Rodolfo) Gianni Maffeo (Schaunard), Rolando Panerai (Marcel), Paolo Washington (Collin), Claudio Giombi (Benois), Mirella Freni (Mimi) Renate Holm (Musette), u. a.