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Orpheus 6/1984

ALLGEMEINE VERSÖHNUNG

I Lombardi

Mailänder Scala - 20.4.84


Niemand hatte wohl mit einem solchen Erfolg gerechnet, wie diese frühe Verdi-Oper sie der Scala brachte. Man war inzwischen bei der Halbzeit einer eher blassen, schon vor Beginn scharf kritisierten Spielzeit angelangt. Zwar wußte man von der schwierigen finanziellen Situation, die allen italienischen Operntheatern in diesem Jahr noch mehr als zuvor zu schaffen macht, aber die Sparmaßnahmen wollten nicht gefallen: nur wenige Neuinszenierungen, Streichung der Konzert-Saison im Frühjahr, Schließung der „Piccola Scala", die zwar oft Aufführungen von hoher Qualität gebracht hatte, deren Kosten aber in keiner Relation zur Zahl der Zuschauer standen. —Engpässe bei den Besetzungen und Terminverschiebungen sind leider ein chronisches Übel geworden, und vor der Eröffnungs-,,Turandot" im Dezember sorgte die Absage Placido Domingos für Aufregung. Aber dann ging doch alles gut, und der Ersatzmann (NICOLA MARTIN UCCI) erntete einen großen persönlichen Erfolg. Mit Reprisen und Anleihen bei anderen Theatern brachte man den Januar und den Februar über die Runden. Sehr bewundert wurde eine „Ariadne“ aus München unter Wolfgang Sawallisch mit TRUDELIESE SCHMIDT, EVA MARTON, EDITA GRUBEROVA und JAMES KING in den Hauptrollen. Aber das waren nur drei Vorstellungen. Eintrittskarten zu bekommen war für die meisten unmöglich. Dagegen gab es viele Vorstellungen des Carmelo-Bene-Experiments mit Manzonis „Adelchi“ im Teatro Lirico. Aber hier fehlten nach den ersten Tagen die Zuschauer.

Der März brachte dann eine erste Wende. Intendant Badini konnte wenigstens die Finanzen bis Ende dieser Saison in Ordnung bringen durch eine Anleihe bei einem Pool internationaler Banken. Die gut florierenden italienischen Banken hatten sich dazu nicht entschließen können, obwohl das Risiko begrenzt erschien: Badini erhielt 14 Milliarden Lire, aber hinterlegte als Sicherheit 23 Milliarden, die der italienische Staat ihm schuldet, Rückstände aus den Jahren 1976 bis 1982. Für 1984 sind die Subventionen zwar beschlossen, aber bisher nicht ausbezahlt worden. Ohne die internationale Anleihe wären die über 800 Scala-Angestellten schon im Mai ohne Gehälter geblieben (es erscheint wichtig, auch einmal diese wirtschaftlichen Daten einzuflechten, denn vor ihrem Hintergrund wird manche Situation besser verständlich). —Auch die Frage der ständigen musikalischen Leitung konnte ins März endlich gelöst werden. Es kam zu einem Kompromiß Abbado—Muti: Abbado wird 1985/86 noch zur Verfügung stehen, mit „Carmen“ die Saison eröffnen, eine Nono-Premiere leiten („Prometeo“), ebenso ein Debussy-Festival 1986, in dessen Mittelpunkt „Pelleas und Melisande“ stehen soll. Im Dezember 1986 wird dann Muti seinen Vertrag antreten. Wie lange er sich an die Scala verpflichtet hat, ist bisher unbekannt. Zu hoffen bleibt nur, daß er sich nach dieser Erfahrung nicht ähnlich äußert wie Abbado, der kürzlich in einem Interview erklärte, er habe hier eine fruchtbare Periode erlebt, die aber mit vielen Mißhelligkeiten — nicht zuletzt politischer Art — behaftet war. Sein Interesse ist derzeit nur noch gering.

Der April brachte dann den halbverunglückten Abend mit „Bajazzo“ und „La Strada“. Der geplante russisch-israelische Dirigent war nach einer Auseinandersetzung mit dem Haus abgereist und mußte zur Generalprobe durch EDUARDO MUELLER ersetzt werden. ADRIANA MALIPONTE, eine sehr bekannte Stimme, wollte das Experiment der Nedda wagen, aber diese Rolle gehört nicht in ihr Fach. Ihre „vornehme“ Gesangskultur wurde ihr zum Hindernis, kein dramatischer Spitzenton schlug durch.

Dann endlich ein Erfolg mit den „Lombardi“ (17. 4.). Verdi schrieb diese Oper 1843 im Gefolge des erfolgreichen „Nabucco“. Auch hier handelt es sich um einen religiösen Stoff, der Chor ist ein tragendes Element, es wird viel gebetet. Das Textbuch ist so verworren, daß man es eigentlich nur als eine Abfolge einzelner Szenen betrachten kann, denn eine logische Handlung ist nicht zu erkennen. Die Charaktere der Hauptgestalten, denen in der Folge Verdis Hauptinteresse gilt, sind kaum angedeutet, auch musikalisch enthält das Werk wenig formal Neues. Aber es hat das ganze Feuer eines junge Genies, das vor Melodien überquillt. Verdi hat das Werk später noch einmal für die Pariser Oper zu einer „Grand Opera" überarbeitet mit dem Titel „Jerusalem“, und dort wurde es Anfang dieses Jahres gegeben.

Zu dem Mailänder Erfolg trugen ohne Zweifel auch lokalpatriotische Gesichtspunkte bei: schließlich sind es Lombarden, die ins Heilige Land ziehen. Als man das eigene Stadtwappen auf den Schilden der Krieger sah, gab es spontan Applaus. Überhaupt zeichnete sich GABRIELE LAVIAS erste Opernregie durch gute Einfälle aus: alles blieb in der Tradition, aber es war gekonnt, hatte Rhythmus, und wo die Dramaturgie der Oper gefährlich auseinanderfällt, ließen blitzschnelle Szenenwechsel keine Langeweile aufkommen. Regie und musikalische Leitung waren sich einmal einig: keine musikalische Tüftelei, sondern feuriges Musizieren, wie es dem jungen Verdi gebührt. Der Lombarde GIANANDREA GAVAZZENI war in seinem Element wie schon lange nicht mehr: er war es, der an diese Oper geglaubt hatte. GHENA DIMITROVA, die mit machtvoller Stimme die "Turandot“ der Eröffnung gesungen hatte, bewies dieses Mal, daß ihre riesige Stimme der feineren Nuancen fähig ist, schon beim schwierigen, nur gehauchten „Salve Maria" ihres ersten Auftritts. JOSE CARRERAS sang so schön wie schon lange nicht mehr. Keine Spur mehr von Müdigkeit, von Abnutzungserscheinungen, die man ihm in jüngster Zeit vorgeworfen hat. Nicht ganz auf derselben Höhe der Bariton SILVANO CARROLI, der auch in Paris gesungen hatte. Er steigerte sich im Laufe des Abends und wird vielleicht unter Führung erster Regisseure das Erbe Cappuccilli—Bruson antreten. Wesentlich schwächer sein Gegenpart: der Tenor CARLO BINI, und alle anderen. Den größten Erfolg des Abends erntete der Chor, der sein „O Signore dal tetto natio“ wiederholen mußte, entgegen jeder Scala-Tradition und dem Reformer-Willen Toscaninis, der die .‚bis“-Angewohnheit der Mailänder ja gründlich ausräumte.

Diese Episode wird sich auch bestimmt nicht wiederholen. Sie war Teil eines besonders geglückten Abends, an dem alles gutging. Aber sie war wichtig, denn sie gab Selbstvertrauen zurück. Ein Selbstvertrauen, das man hier nötig braucht bei der Vorbereitung von Stockhausens,.Samstag aus Licht“. Es ist viel Kritik geübt worden, berechtigte und unberechtigte. Der Erfolg dieser ‚‚Lombardi“ stellte die guten Beziehungen zum Publikum wieder hier, und das Theater bewies wie schon oft in seiner Geschichte, daß es gerade dann überrascht, wenn man ihm seinen sicheren Abstieg prophezeit hat.
SYBILLE SCHNEIDER-MARIOTTI —