Orpheus 6/1984 |
ALLGEMEINE VERSÖHNUNG |
I Lombardi |
Mailänder Scala - 20.4.84 |
Der März brachte dann eine erste Wende. Intendant Badini konnte
wenigstens die Finanzen bis Ende dieser Saison in Ordnung bringen durch eine
Anleihe bei einem Pool internationaler Banken. Die gut florierenden
italienischen Banken hatten sich dazu nicht entschließen können, obwohl das
Risiko begrenzt erschien: Badini erhielt 14 Milliarden Lire, aber hinterlegte
als Sicherheit 23 Milliarden, die der italienische Staat ihm schuldet,
Rückstände aus den Jahren 1976 bis 1982. Für 1984 sind die Subventionen zwar
beschlossen, aber bisher nicht ausbezahlt worden. Ohne die internationale
Anleihe wären die über 800 Scala-Angestellten schon im Mai ohne Gehälter
geblieben (es erscheint wichtig, auch einmal diese wirtschaftlichen Daten
einzuflechten, denn vor ihrem Hintergrund wird manche Situation besser
verständlich). —Auch die Frage der ständigen musikalischen Leitung konnte ins
März endlich gelöst werden. Es kam zu einem Kompromiß Abbado—Muti: Abbado
wird 1985/86 noch zur Verfügung stehen, mit „Carmen“ die Saison eröffnen,
eine Nono-Premiere leiten („Prometeo“), ebenso ein Debussy-Festival 1986, in
dessen Mittelpunkt „Pelleas und Melisande“ stehen soll. Im Dezember 1986 wird
dann Muti seinen Vertrag antreten. Wie lange er sich an die Scala
verpflichtet hat, ist bisher unbekannt. Zu hoffen bleibt nur, daß er sich
nach dieser Erfahrung nicht ähnlich äußert wie Abbado, der kürzlich in einem
Interview erklärte, er habe hier eine fruchtbare Periode erlebt, die aber mit
vielen Mißhelligkeiten — nicht zuletzt politischer Art — behaftet war. Sein
Interesse ist derzeit nur noch gering.
Der April brachte dann den halbverunglückten Abend mit „Bajazzo“ und
„La Strada“. Der geplante russisch-israelische Dirigent war nach einer
Auseinandersetzung mit dem Haus abgereist und mußte zur Generalprobe durch
EDUARDO MUELLER ersetzt werden. ADRIANA MALIPONTE, eine sehr bekannte Stimme,
wollte das Experiment der Nedda wagen, aber diese Rolle gehört nicht in ihr
Fach. Ihre „vornehme“ Gesangskultur wurde ihr zum Hindernis, kein
dramatischer Spitzenton schlug durch.
Dann endlich ein Erfolg mit den „Lombardi“ (17. 4.). Verdi schrieb
diese Oper 1843 im Gefolge des erfolgreichen „Nabucco“. Auch hier handelt es
sich um einen religiösen Stoff, der Chor ist ein tragendes Element, es wird
viel gebetet. Das Textbuch ist so verworren, daß man es eigentlich nur als
eine Abfolge einzelner Szenen betrachten kann, denn eine logische Handlung
ist nicht zu erkennen. Die Charaktere der Hauptgestalten, denen in der Folge
Verdis Hauptinteresse gilt, sind kaum angedeutet, auch musikalisch enthält
das Werk wenig formal Neues. Aber es hat das ganze Feuer eines junge Genies,
das vor Melodien überquillt. Verdi hat das Werk später noch einmal für die
Pariser Oper zu einer „Grand Opera" überarbeitet mit dem Titel
„Jerusalem“, und dort wurde es Anfang dieses Jahres gegeben. Zu dem Mailänder Erfolg trugen ohne Zweifel auch lokalpatriotische
Gesichtspunkte bei: schließlich sind es Lombarden, die ins Heilige Land
ziehen. Als man das eigene Stadtwappen auf den Schilden der Krieger sah, gab
es spontan Applaus. Überhaupt zeichnete sich GABRIELE LAVIAS erste Opernregie
durch gute Einfälle aus: alles blieb in der Tradition, aber es war gekonnt,
hatte Rhythmus, und wo die Dramaturgie der Oper gefährlich auseinanderfällt,
ließen blitzschnelle Szenenwechsel keine Langeweile aufkommen. Regie und
musikalische Leitung waren sich einmal einig: keine musikalische Tüftelei,
sondern feuriges Musizieren, wie es dem jungen Verdi gebührt. Der Lombarde
GIANANDREA GAVAZZENI war in seinem Element wie schon lange nicht mehr: er war
es, der an diese Oper geglaubt hatte. GHENA DIMITROVA, die mit machtvoller
Stimme die "Turandot“ der Eröffnung gesungen hatte, bewies dieses Mal,
daß ihre riesige Stimme der feineren Nuancen fähig ist, schon beim
schwierigen, nur gehauchten „Salve Maria" ihres ersten Auftritts. JOSE
CARRERAS sang so schön wie schon lange nicht mehr. Keine Spur mehr von
Müdigkeit, von Abnutzungserscheinungen, die man ihm in jüngster Zeit
vorgeworfen hat. Nicht ganz auf derselben Höhe der Bariton SILVANO CARROLI,
der auch in Paris gesungen hatte. Er steigerte sich im Laufe des Abends und
wird vielleicht unter Führung erster Regisseure das Erbe Cappuccilli—Bruson
antreten. Wesentlich schwächer sein Gegenpart: der Tenor CARLO BINI, und alle
anderen. Den größten Erfolg des Abends erntete der Chor, der sein „O Signore
dal tetto natio“ wiederholen mußte, entgegen jeder Scala-Tradition und dem
Reformer-Willen Toscaninis, der die .‚bis“-Angewohnheit der Mailänder ja
gründlich ausräumte. Diese Episode wird sich auch bestimmt nicht wiederholen. Sie war Teil
eines besonders geglückten Abends, an dem alles gutging. Aber sie war
wichtig, denn sie gab Selbstvertrauen zurück. Ein Selbstvertrauen, das man
hier nötig braucht bei der Vorbereitung von Stockhausens,.Samstag aus Licht“.
Es ist viel Kritik geübt worden, berechtigte und unberechtigte. Der Erfolg
dieser ‚‚Lombardi“ stellte die guten Beziehungen zum Publikum wieder hier,
und das Theater bewies wie schon oft in seiner Geschichte, daß es gerade dann
überrascht, wenn man ihm seinen sicheren Abstieg prophezeit hat. |
|