Zum Inhalt/To index
 
 
 
 

Opernwelt   7/1984

I Lombardi - La Scala

Verdis «Lombarden» an der Mailänder Scala 

 

Die bessere Besetzung, der bessere Dirigent, die bessere Produktion und, ganz offensichtlich, die bessere Oper. Das ist das Urteil über die Wiederaufführung — nach fünfzig Jahren — von Verdis «I Lombardi alla prima crociata» an der Mailänder Scala im Vergleich zur Pariser Inszenierung von «Jérusalem», der französischen Adaption des gleichen Werkes.

So unterhaltsam die Exhumierung von «Jérusalem» an der Opéra in Paris auch war, das Unternehmen mißlang beim Versuch, aus Verdis großen Ensembles eine Tugend zu machen und der Geschichte Überzeugungskraft zu geben.

Herausragendes Merkmal der nunmehrigen Produktion von Verdis Originalversion an La Scala — diese «Lombardi» hatten dort im Jahre 1843 ihre Premiere erlebt —‚ war das Zutrauen in die wachsende dramatische und musikalische Kraft des jungen Komponisten, die in diesem Werk ausgedrückt wird. Die Produktion war eine Rechtfertigung des Werkes gegenüber den gehäuften Widerständen gegen vermeintliche Ungehobeltheiten und Unebenheiten, mit denen es so lange zu leben hatte; und sie läßt scharf hervortreten, wie Verdi selbst die prägnanten Konturen seines Charakters als Opernkomponist in der zeitlich späteren französischen Version verwischte.

Als Regisseur holte sich die Scala Gabriele Lavia, einen der erfahrensten italienischen Shakespeare-Darsteller und -regisseure. Lavia und sein Bühnenbildner, Giovanni Agostinucci, dachten sich eine Serie von Dekorationen aus, die in der Einfachheit von Entwurf und Farben, ihrer ästhetischen Schönheit und dramatischen Wirksamkeit, einen Rahmen von spartanischer Größe schufen, gegen den das dramatische Wechselspiel der Charaktere sich scharf konturieren ließ.
Das Motiv eines blutroten Kreuzes, zweischneidiges Symbol der Kreuzzüge, unterstrich die künstlerische Einheit der Produktion; es zierte die Banner der Kreuzritter und erschien auf der wogenden Standarte, durch die, in einem coup de théâtre im vierten Akt, die Schlacht um die Heilige Stadt in Silhouette dargestellt wurde.

Aber Lavia war vor allem in der Chorbehandlung höchst ehrgeizig. Die stimmungsvolle Versammlung von Räubern in Akt 1 brachte eine unerwartete Ironie in der Musik zum Vorschein. Und der Harem-Chor —eine der weniger inspirierten Stellen der Partitur — wurde durch ein modestes Ballett belebt. Die größer dimensionierten Ensembles wurden mit ungewöhnlich strenger Formkraft gestaltet. Die plagenden «Jerusalem»Rufe im Pilgerchor des dritten Aktes zum Beispiel wehten von der Hinterbühne durch Nebel der Morgendämmerung, und «O Signore, dal tetto natio», Verdis Fortsetzung von «Va pensiero» — wurde von Reihen uniformierter Kreuzritter, über die Bühne gespannt wie eine unbesiegbare Schlachtformation, gesungen.

Diese Fähigkeit, eine theatralische «Rosine» in jeder Szene zu kreieren, gab nicht nur Soleras Libretto ein gewisses Ansehen, sondern machte auch den Anblick Jerusalems im Finale, in untergehender Sonne gebadet, zu einem logischen, glaubwürdigen und triumphalen Höhepunkt.
Die Qualität der musikalischen Darbietung unter Gianandrea Gavazzeni war gleichermaßen hoch. Er holte aus dem Orchester virtuosen Schwung, formte die melodischen Linien zu schmeichelnder Größe, ließ nichts in der Partitur zweitklassig klingen.

Gena Dimitrowa war in strahlender Form, obwohl ihre Stimme für Giselda eigentlich zu groß ist. Sie stürmte mit belebendem Schwung über die melodischen Linien, aber in schnelleren Passagen wie etwa dem großartigen Prestissimo des Ensembles am Ende des zweiten Aktes, das Verdi in der französischen Version fallenließ, blieb ihre Artikulation der Noten ungenau. Ihr « Salve Maria» jedoch war sehr schön, und sie produzierte ein echtes hohes B fil di voce am Ende des Duetts.

Silvano Carroli im Baritonpart des Pagano war der einzige der Besetzung, der auch in der Pariser Produktion gesungen hatte. Er schien — und klang — hier glücklicher, obwohl er weder visuell noch stimmlich eine spezifische Persönlichkeit hat. José Carreras war als Oronte außerordentlich, mit jenem dramatischen Ausdruck phrasierend, der die Tenorpartie in romantischer Glut entflammte. Die härteste Nuß in dieser Oper ist das Terzett im dritten Akt, strategisch besser plaziert als in «Jérusalem», und mit dem Bonus eines exquisiten Violin-Solos versehen. Es war hier nicht ganz perfekt balanciert, aber atmete dennoch die mitfühlende Menschlichkeit, die Verdis beste Momente auszeichnet.