Zum Inhalt/To index
 
 
 
 
Oper und Konzert 7/1981
Lucia di Lammermoor, Wien, 17.Mai 1981
Kann man „ Lucia di Lammermoor“ ohne Primadonna spielen? Man kann, meinte das Betriebsbüro der Staatsoper Wien und setzte Patricia WISE in der Titelrolle an — in einer Stadt, in der vor einem Vierteljahrhundert die Callas gastierte, die Anna Moffo und Erika Köth im Zenit ihrer Karrieren erlebte, wo vor drei Jahren das Werk neu für Edita Gruberova einstudiert wurde. Noch vor 22 Uhr gewann man den Eindruck, daß man „ Lucia“ nicht ohne Primmadonna spielen sollte...

Patricia Wise singt mit ihrem kühlen Sopran das unbedarfte Edelfräulein ganz passabel; in Linz wäre sie vermutlich eine Sensation. Aber sind wir nicht in Wien? Miß Wise teilt vor allem mit, wie schwierig die Partie ist, wieviel Herz und Kunstverstand nötig sind, einen Koloraturroboter in eine lyrisch leidende Gestalt zu verwandeln. Die aparte Amerikanerin spielt ein belanglos hübsches Mädchen, das über Familienintrigen und einen politisch ambitionierten, ehrpusseligen und rechthaberischen Verlobten den Verstand verliert, von dem es wahrscheinlich nicht allzuviel besessen hat — sonst würde die gnadenlos Verkuppelte nämlich eher ihren Bruder statt den harmlosen Ehemann ins Jenseits befördern. Schicksal begibt sich bei Miß Wise nicht, bestenfalls eine Kette von mißlichen Situationen. Der Stimme fehlen für diese Partie Raffinement und Brillanz, auch Kraft und charakteristische Färbungen und Temperament: sie ist mit Maßen erregt mit Maßen verzweifelt, mit Maßen verliebt, mit Maßen verrückt. Und von vokaler Ekstase keine Spur. Wer noch die Expressivität Erika Köths — zu ihrer traumwandlerischen Sicherheit und Bravour — in der Erinnerung hat, schüttelte nur den Kopf. Was der Berichtende auch tat.

In Wien taugte übrigens die ganze Familie im Schloß Ravenswood nicht viel: Lord Henry sah in der Gestalt von Hans HELM zwar gut aus, ließ sich aber von seiner Schwester in mangelnder Nuancierung der Partie kaum übertreffen. Ein lauter, uninteressanter heller Bariton, ohne Farbe, ohne Leidenchaft in der Stimme. Lord Arthur hätte eigentlich ganz gut in diese fade Gesellschaft gepaßt, Yoshihisa YAMAJI sang ihn mit glanzlosem Mezzoforte und schien an einer Zähmung seiner widerspenstigen Braut weit weniger interessiert als an den Einsätzen vom Pult. Wen verwundert, daß bei solch wenig geglückten Kindern auch der väterliche Mentor Pestalozzi-Format nicht erreichte: Peter WIMBERGER sang den Raimondo so, daß man für die Kürzung der Arie dankbar war. Von Margarete HINTERMEIER hätte man gern mehr gehört, als Donizetti Alisa zu singen gab, Gregor CABAN, Mitglied des Opernstudios, ließ als Normanno auf einen lyrischen Tenor der Zukunft hoffen.

José CARRERAS ist vielleicht schon über Edgardo hinausgewachsen, in der Auftrittsszene bereiteten ihm die kleinen Notenwerte kleine Schwierigkeiten. Aber spätestens mit dem Sextett öffnete sich dann doch ein Sechstel Opernhimmel, vielleicht sogar ein Drittel, denn mühelos überstrahlte er Kollegen und Orchester. Natürlich, uneitel, keinen Augenblick verleitet zu dreister Extratour außerhalb künstlerischer Moral. Weit und breit keine Kantilene, die nicht aus einem satten Piano entwickelt worden wäre, jede Phrase aus der dramatischen Situation heraus gestaltet, mit Leben und Ausdruck erfüllt, von echtem Empfinden getragen. Er ist nie nur Tenor: die Arie vor dem Selbstmord war ein erregendes Seelengemälde.

Die WIENER PHILHARMONIKER schienen bis zum Schlußbild von den Geschehnissen der Schottischen Bluthochzeit wenig berührt, boten Donizetti eher beiläufig, immerhin investierte der Flötist seine große Kunst, und im letzten Bild erweckte Edgardos Sterben die Musiker zum Leben: sie begleiteten José Carreras ihrem Ruhme gerecht. Am Pult ließ Oliviero de FABRTIIS von seinem 60jährigen Umgang mit diesem Meisterwerk vor allem die dabei erworbene Routine spüren — welche Funken hat einst Ferenc Fricsay aus der Partitur geschlagen!

In den wunderschönen Szenerien von Pantelis DESSCYLLAS führte Boleslaw BARLOG Regie. Er liebt die Oper so sehr, daß er die höchst schätzenswerte, leider ganz abhanden gekommene Meinung vertritt, die vornehmste Aufgabe des Regisseurs sei, ganz unbemerkt zu bleiben. Bildhafte noble Arrangements, wenig Gestik, sängerfreundlich — aber warum ließ er nur die Damen und Herren des Chores während Lucias Wahnsinnsszene teilnahmslos wie eine buddhistische Reisegruppe in der Messe der Hofburgkapelle sitzen? Sollte der Tarifvertrag längeres Stehen verbieten? Ein bisserl mehr hätten Schottlands Edle doch aufgescheucht werden können — wie oft sticht schon in der Hochzeitsnacht eine Lady ihren Angetrauten ab und wird mit Ophelia-Blick unter Absingung wilder Koloraturen ohnmächtig. KA