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Oper und Konzert 9/1985

Carmen

Salzburg - Großes Festspielhaus

(Eröffnungspremiere)

Die Salzburger Sommerfestspiele wurden mit einem Gastspiel der Salzburger Osterfestspiele eröffnet: Herbert von KARAJAN dirigierte „Carmen". Das hat manche Salzburger Gramfalte zur Furche vertieft, Kulturpessimisten sprachen von einer „ Karajan-Filiale“ und malten das Menetekel des endgültigen Niedergangs der Festspiele an die Wand; das verwundert in einer Stadt, die sonst so auf Tradition hält. Man hat hierzulande anscheinend ganz vergessen, daß die Salzburger Festspiele anfangs vorwiegend aus Gastspielen der Wiener Staatsoper bestanden . . . Wie dem auch sei: das Publikum focht solche subtile Seelenkräuselung nicht an und freute sich über „Carmen“.

Gegenüber den Osterfestspielen hatte Herbert von Karajan lediglich das Orchester getauscht, statt der Berliner spielten die WIENER PHILHARMONIKER; ganz sicher wäre es gescheiter gewesen, die Sängerin der Micaela auszutauschen. So zirpte wieder Janet PERRY die blondlockige Unschuld vom Lande und wird vielleicht traurig, aber kaum erstaunt gewesen sein, daß sich nach der zwirnsdünnen Arie keine Hand rührte; dieses Nicht-Echo kennt sie ja schon von Ostern her.

Regiesüchtige Opernfreunde kommen bei dieser „Carmen“ kaum auf ihre Rechnung. Die Inszenierung ist opernhaft im tradierten Sinn, und der Regisseur Karajan verläßt sich auf den Dirigenten Karajan: wenn dieser imstande ist, eine Emotion, eine Situation allein mit den Mitteln der Musik auszudrücken, braucht jener keine szenische Überdeutlichkeit — und auf den Musiker Karajan ist immer Verlaß. Und überdies gibt es zwei großartige Sängerdarsteller, die das menschliche Drama aufregend zu gestalten wissen. Diese „Carmen“ fesselt all jene, die nicht einen Bunuel-Film über südspanische Elendsquartiere oder eine Episode aus dem spanischen Bürgerkrieg (die Schmuggler als Helden gegen Franco) oder das Ganze als Alptraum Don Joses erwarten. Die Bühnenbilder von Günther SCHNEIDER-SIEMSSEN, sehr sorgfältig ausgeleuchtet, machen einen dekorativen Eindruck von außerordentlicher Schönheit und malerischer Wirkung, sind fabelhaft bespielbar.

Agnes BALTSA ist wieder Carmen. Daß eine Künstlerin wie sie jedes Nutten-Klischee meidet, ist selbstverständlich; sie erspart uns auch das Emanzipatorische als wohlfeile Mode. Ihre Carmen will Unabhängigkeit, aber sie bleibt entflammbar. Sie schenkt sich jede Stilisierung ins raunend Dämonische, aber man spürt die todbringende Schicksalskraft dieser Frau. Agnes Baltsa hat einen ungemein sprechenden Körper, ausdrucksstark ihre Bewegungen, die animalische Grazie mit Intellekt und Würde vereinen. Wichtigstes Medium dieser Carmen ist die heute fast einzigartig farbige, wunderbar ausgeglichene Stimme, die das Wesen Carmens in jeder Note zu vermitteln vermag: hinreißend. José CARRERAS gehört zu jenen Tenören, die Rollen nicht nur gestalten, sondern erleben. Dadurch haben die Auseinandersetzungen mit Carmen jene elementare Gewalt, die von der Musik gefordert wird. José Carreras steigerte sich im letzten Bild so in die tödliche Verstrickung, daß er seine Partnerin, aber auch Orchester und Dirigenten in seine übermächtige Gefühlswoge hineinriß: großartiger kann Oper nicht sein.

So recht verstand man Carmen nicht, daß sie Escamillo diesem Don José vorzog: man muß sicher den Torero nicht so geben, als sei er der Stier; aber etwas mehr Temperament als Jost van DAM aufbringt, würde nicht schaden; immerhin klang er voluminöser als an Ostern. Die flotten Röllchen von Mercedes und Frasquita könnte man sich opulenter besetzt denken, Heinz ZEDNIK war Fürst unter den Schmugglern. Die Balletteinlage scheint beim zweiten Besuch der „Carmen“ unnötiger als beim ersten, immerhin ersparte uns Karajan anders als zu Ostern die tänzerische Einlage vor der Arena.

In Salzburg ist zur Zeit menschenfreundliche taktvolle Mode, über die künstlerischen Probleme der Festspiele nach der Epoche Karajan zu spekulieren — lieber sollte man Bittgottesdienste veranstalten, diese Zeit möge erst in ferner Zukunft anheben. Welch eine atemberaubende musikalische Kraft geht von diesem Dirigenten aus, wie kann er die köstliche Farbigkeit der Partitur entfalten, die dramatischen Stellen scheinen zu explodieren, die lyrischen haben Weite und Ruhe. Das Publikum weiß schon eher als die Kritiker und Kulturmissionare, was es an Herbert von Karajan hat: als er sich vor den Vorhang schleppte, erhob es
sich. KA