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Orpheus 11/1983
Wien   - Turandot
Als LORIN MAAZEL ans Pult der Philharmoniker eilte, um die letzte und alles entscheidende Premiere seiner ersten Spielzeit zu dirigieren, da mag er sich ein wenig wie Prinz Kalaf vor der gnadenlosen und blutrünstigen Prinzessin „von Eis
umgürtet“ — vorgekommen sein. Denn die Frage, wird gerade die mangels geeigneter Interpreten seit Jahren nicht mehr gespielte Puccini-Oper ein Erfolg oder nicht, konnte die Gesamtbilanz des ersten Maazel-Jahres an der Staatsoper entscheidend verändern. (...) Der Hauptvorwurf gegenüber Regisseur HAROLD PRINCE und seinen Ausstattern TIMOTHY O‘BRIEN sowie TAZEENA FIRTH bei Wiens neuer „Turandot“ läßt sich in einen Satz komprimieren: Die Gäste aus New York sind an den Dimensionen der Wiener Bühne ebenso gescheitert wie sie sich in technische Lösungen „verliebt“ haben. (...) Die Oper lebt von den Spannungen zwischen Massenszenen und dem Dreiecksschicksal Turandot-Kalaf-Liu. In der Harold-Prince-Inszenierung wird das nie so recht klar. In dieser Inszenierung der unlogischen Widersprüche versucht Turandot bereits während der Rätselszene, Kalaf zu küssen. (...)

Und erst recht Liu und Timur: für die beiden ist ebenfalls zu wenig Platz auf der verbauten Bühne: da Liu auch musikalisch wenig auffällt, findet das Stück eigentlich ohne Gegenspielerin zu Turandot statt. Doch kommen wir nun doch zum musikalischen Teil des Abends, der all die Unsinnigkeiten der Regie sosehr aufwog, daß zuletzt endlose Ovationen losbrachen; wobei der Hauptteil der Begeisterung Turandot und Kalaf sowie dem dirigierenden Direktor „anzulasten“ ist. Vor allem EVA MARTON bewies Nerven wie Stahlseile. Sie sang die erste Turandot ihres Lebens und bewies damit, daß auch im Zeitalter der Jet-Set Karrieren sängerische Langzeit-Entwicklungen stattfinden können. Mit schier endlosen Reserven verfügt sie über genügend Stilgefühl, um die Kantilenen Puccinis auszukosten, mit ihrer dunklen Mittellage und ihren stählernen Höhen kann sie den Charakter der selbstbewußten Prinzessin glaubhaft machen, bis auf das ungünstige Kostüm der Prince-Inszenierung. Bei Eva Marton kann man nun auf eine neue Brünnhilde oder Elektra hoffen. 

Die zweite Überraschung war der Kalaf von JOSE CARRERAS. Zumindest am Premierenabend widerlegte er alle Skeptiker. Seine Stimme klang groß und dunkel, seine Anstrengungen wirkten überlegen, und der Kontrast von lyrischer Zartheit in den Arien sowie der Dramatik der Rätselszene und des Schlußduetts war einzigartig, wenn auch später, am 1.9., dann weit gefährdeter: die Höhen klangen nun gepreßt, der Schmelz war dahin (hoffentlich war es nur Abendverfassung).
Recht problematisch war beide Male die Liu von KATIA RICCIARELLI. Hier rächt sich der jahrelange Raubbau an der Stimme. Die Sopranistin kann die lyrischen Legato-Bögen nicht mehr ruhig singen, ein klirrendes, störendes Vibrato beeinträchtigt die an sich zu kühle und distanzierte Leistung: „Liu von Eis umgürtet"... Mit stimmlichen Problemen hatte auch JOHN-PAUL BOGART als Timur zu kämpfen. Sein Baß klingt fahl und brüchig (wenn man bedenkt, daß man diesen Sänger ursprünglich für Wien als Boris ankündigte...)

Bleiben noch die kleineren Partien, die durchweg zufriedenstellend besetzt waren: KURT RYDL als „orgelnder“ Mandarin, WALDEMAR KMENTT als „buddhistischer“ Mönchskaiser, das Trio ROBERT KERNS, HEINZ ZEDNIK und HELMUT WILDHABER als Ping-Pang-Pong. Sie alle verhalfen Maestro Maazel zu einem triumphalen Erfolg. Dabei könnte man auch darüber diskutieren, ob man Puccinis Spätwerk so „entlarvend“ interpretieren soll: denn Lorin Maazel „seziert“ gefühlsträchtige Werke wie „Turandot“ als eruptiv, trommelfellbedrohende Klangcollage, die chinesisches Originalkolorit in eine Musiksprache einbezieht, die durch ihre Orchestrierung Puccini als Zeitgenossen von Berg und Schönberg erahnen läßt. Das Publikum geriet jedenfalls über die musikalische Seite der Aufführung aus dem Häuschen, „überschüttete“ Harold Prince und sein Team mit vehementen Mißfallenskundgebungen und stürmte die Kassen bei den Reprisen. In Wien entscheidet allemal das musikalische Niveau und nicht die Inszenierung! 
PETER DUSEK