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Oper und Konzert 8/1983
Turandot Premiere: 12.6.1983
Hollywoodshow im Reich der Mitte
WIENER STAATSOPER
Ein orientalisches Märchen als Spektakel total, eine Orgie von Flitter, Glamour und aufdringlichen Attituden, szenisch gestaltet von Amerikas berühmtesten Musical-Ausstattern Harold Prince und Timothy O‘Brien, dargeboten von hervorragenden Sängern und einem bis zur Ekstase aufgeheizten Orchesterapparat unter Lorin Maazel. Die letzte Opernpremiere seiner ersten Spielzeit wurde sein größter persönlicher Erfolg.

Wer amerikanischen Bühnengeschmack selbst erlebt hat oder aus Presseberichten kennt, ahnt wohl, was ihm bevorstehen würde. Aber die geschaute Realität übertraf bei weitem alle Erwartungen, auch alle Befürchtungen.

Den stets geöffneten Vorhang ziert ein buntes chinesisches Gitterwerk, gekrönt von einem Bild mit chinesischem Turm vor Eisbergen, mondbeschienen. Aha, Symbolik hämmert es ans Hirn des möglicherweise ahnungslosen Zuschauers. Wenn das Gitter sich hebt, schleppt die in bunter wattierter Jacke steckende Liu den ebenso gewandetem blinden Timur wie einen armen alten Hund am Strick über die Szene. vorbei an der maskentragenden Menschenmenge in blaugrau flimmernden Paillettenkostümen, bis vor eine riesige schmale Treppe, die wie das Ende einer Achterbahn oder der Mondkanone im Wiener Prater aussieht. Diese im Schnürboden endende Himmels-Feuerleiter ist Auftritt für die Prinzessin Eisumgürtet und ihren Vater. Auch sie, Turandot, trägt gleißend glitzernde pompöse Gewänder in grellem Rot, verdeckt ihr Gesicht mit einer Silbermaske  — keine schlechte Idee — die sie leider aus technischen Gründen zum Singen abnehmen muß und schließlich schon vor dem happyend-Kuß Kalaf schenkt. Der wiederum klebt sie an den roten Ständer am Ende der Treppe, der einen Fahrkartenlocher an U-Bahn-Eingängen ähnlich sieht.

Die Bühne flankieren schräge Mauern, über deren Rampe Hofdamen und Palastwachen lugen. Im dritten Akt dienen sie als Aufmarschplan für einen Fackelzug, deren Träger laut Turandots Befehl den namenlosen Sieger ihrer Rätsel suchen. Als man ihn endlich gefunden hat, stürzt sich eine trikottragende, nackt wirkende Sängerin von oben herab in seine Arme. Auf riesigen Tabletts werden Ping, Pang, Pong, ebenfalls im gleißend bunten Papageienlook, über die Bühne geschaukelt, auch sie nur dann ihre Masken lüftend, wenn sie sehnsuchtsvoll vom wohlverdienten Ruhestand schwärmen, also „privat“ sind. Diese Maskensymbolik hat Harold Prince vom chinesischen Theater übernommen, nur versteht er es nicht, ihre Bedeutung konsequent zu veranschaulichen. Verliebt hat er sich offenbar in Horrorattribute: von Schleiern verhüllte Schrumpfköpfe auf Stangen, die ein rasend schneller Wandermond grell beleuchtet, dazu noch ein kopfloses Monster im Paillettenkleid, mit dessen goldenem Schädel die nackte Schöne Kalaf sein Schicksal demonstriert . . Das alles ist des Bühnen-Budenzaubers zu viel.

Nur einer in dem bunten Karnevalstummel steht halbnackt, wie Ghandi in schmuckloses Linnen gehüllt, auf der Himmelsleiter: Kaiser Altoum. Waldemar Kmentt singt ihn vorzüglich und versteht im Spiel mit der um Bewahrung vor entehrender Heirat flehende Tochter wahrhaft zu rühren. Dieses ist die einzige Szene in der durchwegs veräußerlichten Spielführung, die einen Hauch echter Emotionen vermittelt.

Mit keiner Geste verweist Harold Princes Regie in diesem chinesischen Märchen, das eigentlich aus Persien stammt, auf den gesellschaftlichen Hintergrund von der herrschenden Klasse, die das versklavte Volk ausbeutet. Alle sind reich, prächtig gewandet, und neben den goldstrotzenden Ministern zeugt der stahlblaue Glanz der Volkskleidung von gediegenem Wohlstand, zumindest was den Sonntagsstaat betrifft. Auch die niedere Kaste darf ungehindert beim großen Rätselraten ihre Kommentare abgeben. Wie hatte doch Puccini nach einer Aufführung von Gozzis „Turandot" in Berlin bei Reinhardt seinen Librettisten-Freunden zugerufen: „Wenn ihr mir auf diese Fabel eine andere Turandot, phantastisch, poetisch und voll Menschlichkeit, machen wollt, komponiere ich sie.“ Hätte er die neue Wiener Version vorausgeahnt, wäre ihm wohl jede Note im Federhalter steckengeblieben. Aber sein Beifall hätte zweifellos der musikalischen Ausführung gegolten. 

Eva Marton, die keinerlei Gefühlsregung zeigen darf, ist eine eiskalte, majestätische Heroine mit stählerner Stimme von ungeahnten Dimensionen. Ihre Mittellage besitzt massiven Metallglanz, ihre Höhen prasseln in Kaskaden von Urgewalten und fegen wie Wetterleuchten durch das Haus. Sie kennt keine Lagenschwierigkeiten keine Ermüdungserscheinungen — sie ist ein Stimmphänomen, das ihresgleichen sucht und ihre Partner schonungslos mitreißt. Vor allem José Carreras, dessen Kalaf sich zu fast gefährlicher Dramatik steigert. Seine außerordentliche Gesangsleistung wird noch vom Jugendschimmer seines edlen Tenors verklärt, ist aber im Grunde genommen Raubbau. Derartiger Einsatz en Suite ginge ans Kapital, und es wäre ein Jammer um das schöne Material. Selbst im Spiel mit Liù (Katia Ricciarelli) bleibt er heldisch und ohne Gefühlsbeziehung, obwohl sich seine Partnerin in Seelenpein mit kostbaren Pianissimi und schlackenlosen Kantilenen verzehrt.

Mit Kurt Rydls schmerzvoll klagendem Timur, einem pointierten Ministerterzett, Reid Bungers plastischem Mandarin sind auch die kleineren Rollen erstklassig besetzt. Mächtig ausufernd der füllige Chor, der mangelnde Aktionen durch flammende tonale Akzente ersetzt.

Das größte Ereignis des Abends: Lorin Maazel. Was er an Härte, Plastizität und Kontrasten zwischen schmeichelnden Streicherpassagen und brutalen Blecheffekten aus dem Orchestergraben aufbrechen läßt, grenzt an die Magie eines Besessenen. Seine blühenden Lyrismen und grellen Klangspiele wirkten wie ein Trip im Drogenrausch und stimulierten das Publikum zur Raserei. Turandot von Puccini? Nein, Turandot von Maazel wird es einmal in den Annalen der Wiener Staatsoper heißen. 
Dr. lrene-Marianne Kinne