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Opernwelt 5/1979
Triumph des Kunstverstandes —und der schönen Stimmen
Massenets «Werther» in Zürich
Die Massenet-Welle, so scheint es, schlägt nun kräftig auch an die Gestade des Zürichsees (an denen das Züricher Stadttheater, in welchem die Institution «Opernhaus» residiert, ja bekanntlich liegt). Womit wir bereits beim Thema wären: Werther! Es hatte am 17. Dezember 1977 eine Inszenierung von «Don Quichotte» Premiere: eine sehr schöne, gute Aufführung mit vorzüglichen Kräften, die eine gute Presse hatte und den Beifall der Kenner (wenn auch nicht des breiten Publikums) fand. Und jetzt also «Werther»: mit womöglich noch exzellenteren Solisten, deren Verpflichtung nach Zürich, an ein immerhin doch eher kleines Musiktheater, fast einer Sensation gleichkommt (ein international erfolgreicher Monteverdi-Zyklus macht ja noch keine ganze Spielzeit, auch wenn er das Renommee und, legitimerweise, auch das Selbstbewußtsein besagter kleiner Bühne entschieden hebt . . .). Es ist die Rede von Teresa Berganza und von José Carreras.

Die neue Zürcher Inszenierung balanciert recht geschickt zwischen äußerer Attraktivität und innerer Wahrheit. Ihr szenischer Aufwand ist nicht übertrieben, wirkt eher bescheiden; die psychologischen Details sind behutsam und zwingend herausgearbeitet. Bühnenbildner Bert Kistner hat, und offenbar sehr bewußt, darauf verzichtet, Zeit und Ort genau festzulegen; er setzte Zeichen, umriß dabei mehr, als daß er genau definiert hätte. Er scheute nicht die malerische Wirkung, aber er fiel nicht ins Genrehafte. (Er band nicht, wie er in einem Zeitungsinterview vor der Premiere sagte, eine große Bonbonschleife um seine szenischen Zurichtungen und Erfindungen.) Beides, Szenerie und Kostüme, gefielen dem Auge.

Seiten eines Bilderbuches
Otto Schenk zeigte mit seiner Arbeit psychologische Wahrheit auf, zielte auf sinnvolle Durchdringung der Charaktere. Er fürchtete sich nicht, die Tableaux dieser Oper als das darzustellen, was sie im Grunde sind: Seiten eines schönen Bilderbuches, Wegpunkte einer großen Liebe, die sich erst in der Katastrophe, im Untergang, erfüllt. Aber er durchbrach die Statik des Bilderbuchhaften durch seine Personenführung, die ganz auf die Gefühlsregungen der Hauptfiguren ausgerichtet war. Und im ganzen großen Strömen der Gefühle gelang es dem Regisseur, sehr genau die Grenze zwischen Sentiment und Sentimentalität zu ziehen. Eine bewundernswürdige Leistung. Dabei mögen ihm freilich seine Darsteller wesentlich geholfen haben: kluge Darsteller, die nicht nur herrlich sangen, sondern auch sinnvoll zu agieren, eben: darzustellen, imstande waren. Es ist zuallererst Teresa Berganza zu nennen. Charlotte: gewiß eher fraulich als mädchenhaft, ihren jüngeren Geschwistern wohl auch um mehr Jahre, als die Partitur zuzugeben bereit ist («20 ans» sei Charlotte, heißt es dort), entwachsen, im Gesicht mehr Leid als unbeschwerte Jugendlichkeit tragend. Aber: Wie bezaubernd war doch die «Geschwisterlichkeit», die sie ihren kleinen Brüdern und Schwestern mit zärtlichen Gesten zeigte! Und wie sehr hütete sie sich davor, ihre seelischen Wirrungen nach außen zu tragen. Sie wendet sie, in Mimik und Gestik, ganz nach innen. Solcher Innerlichkeit entsprach auch vollkommen der Werther José Carreras‘ —auch wenn ihm Text und Musik größere Gemütsbewegungen als Charlotte zudiktierten. Und die Sophie von Elizabeth Gale wirkte jung, frisch und fröhlich, fast unbekümmert in ihrer Heiterkeit. Daß sie tiefen Gefühls dennoch (schon) fähig war, zeigte die kurze Szene des dritten Aktes: die Frage (an Charlotte) «Mais souffres-tu?». In ihr brach, für einen wunderschönen Augenblick, dieses jungen, unbeschwerten Mädchens (dieser jungen, differenzierten Darstellerin) Empfindungsvermögen gleich einer schönen, dunklen Blume auf... Fast etwas zu warmherzig wirkte dagegen Kari Nurmelas Albert, der eher trockene, beamtenhafte Mann Charlottes. So mindestens in den beiden ersten Akten. Seine Kühle (und Beziehungslosigkeit) wurde erst im dritten Akt evident, dort, wo er Charlotte zwingt, selber dem Boten Werthers jene Pistole zu übergeben, die er verlangt hatte, wohl wissend, wozu jener sie brauchen werde.
Unwiderstehlich, neben solcher darstellerischen Evidenz, die «Beredtheit» des Gesanglichen: eine Vereinigung außergewöhnlicher Stimmen, jener von Teresa Berganza und José Carreras vor allem, jener (und keineswegs etwa abfallend) von Elizabeth Gale und Kari Nurmela sodann. Nicht einmal die Darsteller kleiner und kleinster Rollen hatten Mühe, sich in diesem glücklich ausgewogenen Kollektiv zu behaupten. René Rohr (um ihn noch als Beispiel zu erwähnen) wirkte als Amtmann würdig und menschlich in Darstellung und Gesang.
Dirigent war Nello Santi. Ein paar Akzente, vor allem in den späteren Akten, mochten ihm ein wenig gar laut und effektvoll geraten; dann und wann brannte sein italienisches Temperament mit ihm durch. Insgesamt aber stellte man ein erfreuliches Verständnis für die Massenet‘schen Zwischentöne fest, ein angemessenes Verweilen in den Bereichen zwischen pianissimo und piano, Steigerung höchst selten über das mezzoforte hinaus. Und erstaunlich war Santis Flair für das Parlando Massenets: diesen so eminent französischen Sprachduktus in der Musik, der ein ganzes Koordinatennetz feiner und feinster psychologischer Verästelungen und Durchdringungen umfaßt. Sein Musizieren verriet gute, nur selten gefährdete Einfühlung in diese individuelle, ganz besondere und unverwechselbare «Sprache» des Werkes, in seine leisen agogischen Verschiebungen und Rückungen, seine dynamischen Nuancen. Sängerinnen und Sänger konnten sich auf des Dirigenten sicheren und präzisen Schlag verlassen, auf ein Dirigieren, das an gegebenem Orte auch weicheren, nachgebenden oder anziehenden Charakters durchaus sein konnte, auf eine Führung insgesamt, die gleichermaßen zielbewußt und leidenschaftsbewegt war.

Die Alternativbesetzung
Eine Alternativbesetzung wurde eine Woche nach der Premiere vorgestellt: Chance für jüngere Kräfte einerseits, Absicherung gegen Imponderabilien, wie sie mit der Verpflichtung renommierter Kräfte nun einmal verbunden sind, andererseits:
Glenys Linos sang die Charlotte, Sylvia Greenberg die Sophie, beides Sängerinnen, die dem Zürcher Publikum von früheren Rollen her schon bekannt waren; Peter Dvorsky, aufsteigender Stern am Tenoristenhimmel, war für Werther verpflichtet worden.............
........... Er zeigte sehr viel weniger Zwischentöne als José Carreras; er setzte seine jugendlichen Kräfte unbekümmert ein, setzte sich damit der Gefahr aus, gesanglich etwas rauh zu wirken; José Carreras hatte seine Empfindungen zwar auch, von Stufe zu Stufe, gesteigert, aber immer auch kontrolliert, hatte mit ihrer Dynamisierung wachsende Introvertierung verbunden. Und Sophie wirkte ..............
Gerold Fierz

JULES MASSENET: WERTHER Premiere und besuchte Vorstellung: 10. März 1979. Musikalische Leitung: Nello Santi; Bühnenbild und Kostüme: Beat Kistner; Regie: Otto Schenk. Solisten: Teresa Berganza (Charlotte), Jose Carreras (Werther), Elizabeth Gale (Sophie), Kari Nurmela (Albert) Rene Rohr (Amtmann), Giorgio Aristo (Schmidt), Rudolf A. Hartmann (Johann) u. a.