Zum Inhalt/To index
 
 
 
 

Oper und Konzert

Werther    7.6.1980

München, NATIONALTHEATER

 

Werther war und ist nun mal kein Zugstück und Massenets Musik wird sowieso von vielen als Zuckerbäckerei abgetan. Ich muß gestehen, daß ich eine Schwäche für diese Musik habe und den Werther sehr mag. Was ich dagegen überhaupt nicht mag, ist die Inszenierung von Kurt HORRES (den ich bei modernen Stücken ganz ausgezeichnet finde), die für meine Begriffe für diese Musik tödlich ist, ebenso wie das entromantisierte Bühnenbild von Andreas REINHARDT. Ich besuche daher den Werther nur noch auf Partiturplätzen, um einen ungetrübten Genuß an der Musik zu haben.

 

Diese Aufführung am 7. Juni brachte das Wunder fertig, die geradezu hinreißende Aufführung vom 5. Juni noch zu übertreffen. Die Kleinigkeiten, die am 5. Juni, bedingt durch eine gewisse Nervosität (OBRAZTSOVA und CARRERAS standen erstmals in dieser Inszenierung gemeinsam auf der Bühne), zu kritisieren waren, waren nun behoben.

 

So hatte es mich vor zwei Tagen gestört, daß Elena Obraztsova als Charlotte manchmal die Tiefe zu dick auftrug. Diesmal war nichts davon zu hören — die Stimme klang rundherum herrlich schön, warm und ausdrucksstark. Und Frau Obraztsova vermittelt ein wirkliches Seelendrama: man glaubt ihr zu Beginn das natürliche, unbelastete, liebenswerte Geschöpf. Und dann erlebt man, was die drei Monate einer nicht glücklichen Ehe aus ihr gemacht haben. Im dritten Akt wird sie zur echten Tragödin, man spürt ihre Herzensqualen und ihr Hin- und Hergerissensein zwischen Pflicht und Neigung. Frau Obraztsova schafft hier eine Frauengestalt von ungeheurem seelischen Tiefgang.

 

Jose Carreras ist ein Werther, wie man ihn sich vorstellt, mit sehr viel romantischem Flair und sehr intensiver, schwärmerischer Ausstrahlung. Bemängelte man vor zwei Tagen, daß Carreras zumindest zu Beginn zu wenig phrasierte, sich nicht immer an die Pianoangaben in der Partitur hielt und zu viel im Mezzoforte sang, so zeigte er sich in dieser Aufführung als Wunder der Phrasierkunst. Ich kenne kaum einen Sänger, der sich so stark an die Angaben in der Partitur hält, wie Carreras in dieser Aufführung. Und er versteht es, das Schwärmerische, die unendliche Einsamkeit und die Verzweiflung des Werther glaubhaft zu machen.

 

Marianne SEIBELS schlanker Sopran paßt gut zu der Rolle der Sophie. Hans Günter NOCKER ist über den Albert bereits hinausgewachsen und wirkte sehr farblos. Nachdem Massenet die Partie bereits sehr stiefmütterlich behandelte, müßte sie mit einem jungen, hochkarätigen Bariton besetzt werden, damit Charlottes Hin- und Hergerissensein zwischen beiden Männern glaubhaft wird.

 

Kieth ENGEN war als Amtmann rollendeckend. Wetzlar ist eine biedere Kleinstadt und diesem Kleinstadtniveau entsprach die Besetzung der übrigen Rollen. Manchmal hätte ich mir am liebsten die Ohren zugehalten. Jesus LOPEZ COBOS dirigierte mit sehr viel Impetus und Gefühl. Er verstand es, unserem Orchester beinahe französische, impressionistische Töne zu entlocken. Selbst im Forte klang es nie wagnerhaft dick, sondern durchsichtig. Dabei wurde die Dramatik der Partitur sehr deutlich spürbar. Und Lopez Cobos verzichtete auf alles Parfümierte, was in der Partitur steht, weshalb Massenet von vielen Musikliebhabern abgelehnt wird.

 

Bisher war in der Bayerischen Staatsoper neben den beiden großen Tenören Domingo und Carreras auch ein einziges Mal Alfredo Kraus als Werther zu hören. Leider war das während des Zeitungsstreikes, so daß die meisten Opernfreunde nichts davon erfuhren. Meine Bitte an die Intendanz: bevor der Werther wegen zu geringer Nachfrage ganz vom Spielplan verschwindet, würden wir gerne noch einmal Alfredo Kraus in

dieser seiner Glanzrolle hören.        EEM