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Oper und Konzert 7/1980

Werther    5. 6.1980

München, NATIONALTHEATER

 

Münchens Opernpublikum wird gern als konservativ rückständig beschimpft, weil es die Sänger für wichtiger als die Szeniker hält — und so sollte man meinen, die Kasse werde gestürmt, wenn Elena OBRAZTSOVA und JOSÉ CARRERAS in „Werther“ gastieren. Immerhin eine der berühmtesten Mezzosopranistinnen der Zeit, einer der ersten drei, fünf Tenöre, noch dazu in einer Partie, wo man für sein Scherflein ungefähr fünf Mal soviel Noten hören darf als von Cavaradossi. Und wer begreiflicherweise einen Horror vor dieser Horres-lnszenierung hat, könnte ja die Augen schließen; diese Art des Opernkonsums hat uns manches Jahr gelehrt, unsere Gesellenprüfung haben wir längst bestanden.

 

Weit gefehlt: Freikarten wurden wie saures Bier angeboten, das Haus gähnte; immerhin nicht das Publikum. Das brachte vielmehr dem Paar Ovationen dar, wie es sie von der Scala oder der Met gewöhnt ist. Zu danken war nicht nur für ein Stimmfest, sondern auch für einen ungemein fesselnden Theaterabend. Wieder einmal demonstrierten zwei Persönlichkeiten das allein Entscheidende an einem Opernabend: glaubhafte Menschenleben in Gesang ihr Geschick. Sie entlarvten so ganz nebenbei die hohlen Künsteleien der Regie, das grauenhafte Bühnenbild, das eine Karstadt-Auslage zum Winterschlußverkauf inspiriert hat, wurde in seiner ganzen Erbärmlichkeit dekouvriert.

 

Und dabei hatte es zumindest am Anfang Elena Obraztsova gar nicht so leicht. Sie wirkt, wie ein Kritiker nach ihrer Wiener „Carmen‘ maliziös bemerkte, ein wenig „madamig“, die erste Szene mit dem strahlend jungen Werther streift ein Hauch von Ödipus. Mademoiselle Charlotte wird in ihrer reifen Fraulichkeit von der Leidenschaft Werthers nur an der äußersten Schicht angerührt — aber spätestens im dritten Bild erkennt man, daß dieses distanzierte Nicht-Entflammtsein den Anfang einer Zuneigung bildete — spät, zu spät, wenn Charlotte in den Bannkreis seiner tödlichen Neigung gerät, da wird das abgeklärte Ehefrauen-Dasein mit dem weit älteren Albert aufgebrochen, zerbrochen, der Knoten ihres Herzens löst sich, sie gewinnt in Werthers Liebe ihre verleugnete Jugend zurück. Die wunderbare Stimme gewinnt an Lebendigkeit und Farbe, im Duett lodert dann der Seelenbrand, in der Schlußszene wird sie zu jener Charlotte, von der Werther geträumt hat — ausweglose Verzweiflung tönt aus ihrem Singen. Elena Obraztsova setzt ihre enormen Mittel eher sparsam ein, ungemein präzise, des Komponisten Dynamik-Vorschriften weit genauer als der Partner beachtend. Da der Dirigent Jesus LOPEZ COBOS und das Orchester an derlei penibles Singen nicht gewöhnt schienen, gingen manche der von der Sängerin gebotenen Piano-Pianissimo Nuancen im lauten Orchester unter; nicht die Forte-Passagen: das Orchester, das Frau Obraztsovas Ausbrüche unhörbar macht, muß wohl erst zusammengestellt werden. Aus den Ovationen darf man schließen, daß das Publikum über eine Neuproduktion mit dem Bolshoi-Gast glücklich wäre. Da sich das Gärtnertheater so dankenswert der slavischen Oper annimmt, wäre vielleicht nach „Werther“ und demnächst „Faust“ einmal an „Samson und Dalila“ zu denken   

 

JOSÉ CARRERAS scheint nicht auf Lorbeeren ausruhen zu wollen, der Weltruhm in Milchbarttagen hat ihn nicht bequem werden lassen, seine Neugierde ist nicht von Banknoten erstickt worden: erstaunlich, um wieviel farbiger, sensibler sein depressiver Antiheld seit dem Züricher Debüt 1979 geworden ist. Er hat den jünglingshaften Elan fürs Schwärmerische, er führt mit seiner Stimme Charlotte und den Zuhörer in Versuchung, man darf die hohe Schule der Kehlkopfsinnlichkeit erleben — und durch die Begegnung vor dem Selbstmord weht ein dramatischer Sturm, der lange nicht so äußerlich ist wie das Zwischenspiel, das Massenet komponiert hat.

 

Um diese Luxusausgaben von Charlotte und Werther viel Unzureichendes, Kieth ENGEN einmal ausgeschlossen: Georg PASKUDA, der wild polternde Karl Christian KOHN: geht das neben einem Sensibilissimus wie Jose Carreras? Und könnte man nicht für eine Galavorstellung Albert (Hans Günther NOCKER) umbesetzen? Die Fassung eines Schmuckstückes sollte doch der Karat-Zahl der Brillanten angemessen sein. ... KA