Die „Werther“-Mode der 80er Jahre hat nun auch Wien erreicht; und da
der neue Staatsoperndirektor Claus Helmut Drese das Repertoire erweitern
will, war die Massenet-Oper (3. 12.) für seine Planung ein Glücksfall:
„Werther“ wurde in Wien 1892 uraufgeführt und seit über einem halben Jahrhundert
nicht mehr im Haus am Ring gespielt. Vordergründig hatte Drese wohl auch noch
„pragmatische“ Argumente. Nach Luciano Pavarotti in „Ballo“ und vor Placido
Domingos Otello konnte er Jose Carreras in einer Paraderolle zeigen,
verschaffte Agnes Baltsa ein umjubeltes Rollendebüt als Charlotte, bewies
durch die Besetzung der Rollen des Albert und der Sophie mit Bernd Weikl und
Eva Lind, was er als Ensemblepolitik versteht; außerdem konnte er mit Colin
Davis einen „Werther“Dirigenten aufbieten, dessen Wien-Debüt überfällig war.
Der Erfolg war sozusagen ohne Risiko kalkuliert. Und wenn dann doch einiges
an Kritiken bemäkelt wurde, dann bezog sich das vor allem auf die Regie.
Drese hatte nämlich —um Kosten zu sparen — die „Werther“-Ausstattung der
Scala, die schon für Paris adaptiert worden war, von PIERLUIGI SAMARITANI
eingekauft. Und der ganz im Stil romantischer Theatermaler des 19.
Jahrhunderts arbeitende Samaritani zeichnete auch für die Regie
verantwortlich und dürfte tatsächlich kein großer Regisseur sein. Und da sein
stimmungsvolles Bühnenbild die Zeit der Komposition — also die bürgerliche
Garten- und Salonwelt des späten 19. Jahrhunderts in Frankreich — zeigt,
revoltierten die Sängerstars und ertrotzten sich ihr eigenes Konzept. Der
Werther des spanischen JOSE CARRERAS ist ein introvertierter, sich in seinen
Schwärmereien verzehrender „Aussteiger“, der von Charlottes schroffer
Zurückweisung erst zu seinem Liebesfieberwahn provoziert wird. Und AGNES
BALTSA als Charlotte — das ist eine Traumrolle für die griechische
Mezzosopranistin: zunächst herb und verschlossen lodert schließlich die
Leidenschaft einer großen Liebe — der 3. Akt dieser „Werther“-Premiere war
jedenfalls ganz großes Operntheater. Zuvor hatte der spanische Tenor einige
Mühe gehabt, um seine Höchstform zu erreichen; die Divergenzen zwischen der
Personenregie von Samaritani und jener von Baltsa/Carreras waren zu
offenkundig. Und der musikalische Duktus von COLIN DAVIS schien zu
unterkühlt. Doch zuletzt stimmte einfach alles: die Aufwertung der
Nebenrollen (BERND WEIKL als Luxus-Albert mit schwelgerischem Wohlklang
aufwartend, EVA LIND als innig-verspielte Sophie, PETER WIMBERGER als
eindringlicher Amtmann mit Baß-Kantilene sowie HELMUT WILDHABER als munterer
Schmidt, der Freund des Amtmannes), die luxuriöse Ausstattung von Samaritani,
die exzentrischen Steigerungen des Dirigenten, der mit den beiden Stars
Carreras und Baltsa „mithielt“. Wien hat sich vom „Werther“-Fieber anstecken
lassen. Und da Drese für die nächsten Jahre von Alfredo Kraus bis Placido
Domingo und von Frederica von Stade bis Tatjana Troyanos viele Stars für
diese Produktion angekündigt hat, die zur internationalen
„Werther“-Renaissance der letzten Jahre beigetragen haben, dürften die
Hitzekurven des Wiener Publikums für Massenet noch einige Jahre nicht
abflachen.
PETER DUSEK —
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