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Orpheus 2/87

 

PRACHT-,,WERTHER“

ÖSTERREICH — WIEN


Die „Werther“-Mode der 80er Jahre hat nun auch Wien erreicht; und da der neue Staatsoperndirektor Claus Helmut Drese das Repertoire erweitern will, war die Massenet-Oper (3. 12.) für seine Planung ein Glücksfall: „Werther“ wurde in Wien 1892 uraufgeführt und seit über einem halben Jahrhundert nicht mehr im Haus am Ring gespielt. Vordergründig hatte Drese wohl auch noch „pragmatische“ Argumente. Nach Luciano Pavarotti in „Ballo“ und vor Placido Domingos Otello konnte er Jose Carreras in einer Paraderolle zeigen, verschaffte Agnes Baltsa ein umjubeltes Rollendebüt als Charlotte, bewies durch die Besetzung der Rollen des Albert und der Sophie mit Bernd Weikl und Eva Lind, was er als Ensemblepolitik versteht; außerdem konnte er mit Colin Davis einen „Werther“Dirigenten aufbieten, dessen Wien-Debüt überfällig war. Der Erfolg war sozusagen ohne Risiko kalkuliert. Und wenn dann doch einiges an Kritiken bemäkelt wurde, dann bezog sich das vor allem auf die Regie. Drese hatte nämlich —um Kosten zu sparen — die „Werther“-Ausstattung der Scala, die schon für Paris adaptiert worden war, von PIERLUIGI SAMARITANI eingekauft. Und der ganz im Stil romantischer Theatermaler des 19. Jahrhunderts arbeitende Samaritani zeichnete auch für die Regie verantwortlich und dürfte tatsächlich kein großer Regisseur sein. Und da sein stimmungsvolles Bühnenbild die Zeit der Komposition — also die bürgerliche Garten- und Salonwelt des späten 19. Jahrhunderts in Frankreich — zeigt, revoltierten die Sängerstars und ertrotzten sich ihr eigenes Konzept. Der Werther des spanischen JOSE CARRERAS ist ein introvertierter, sich in seinen Schwärmereien verzehrender „Aussteiger“, der von Charlottes schroffer Zurückweisung erst zu seinem Liebesfieberwahn provoziert wird. Und AGNES BALTSA als Charlotte — das ist eine Traumrolle für die griechische Mezzosopranistin: zunächst herb und verschlossen lodert schließlich die Leidenschaft einer großen Liebe — der 3. Akt dieser „Werther“-Premiere war jedenfalls ganz großes Operntheater. Zuvor hatte der spanische Tenor einige Mühe gehabt, um seine Höchstform zu erreichen; die Divergenzen zwischen der Personenregie von Samaritani und jener von Baltsa/Carreras waren zu offenkundig. Und der musikalische Duktus von COLIN DAVIS schien zu unterkühlt. Doch zuletzt stimmte einfach alles: die Aufwertung der Nebenrollen (BERND WEIKL als Luxus-Albert mit schwelgerischem Wohlklang aufwartend, EVA LIND als innig-verspielte Sophie, PETER WIMBERGER als eindringlicher Amtmann mit Baß-Kantilene sowie HELMUT WILDHABER als munterer Schmidt, der Freund des Amtmannes), die luxuriöse Ausstattung von Samaritani, die exzentrischen Steigerungen des Dirigenten, der mit den beiden Stars Carreras und Baltsa „mithielt“. Wien hat sich vom „Werther“-Fieber anstecken lassen. Und da Drese für die nächsten Jahre von Alfredo Kraus bis Placido Domingo und von Frederica von Stade bis Tatjana Troyanos viele Stars für diese Produktion angekündigt hat, die zur internationalen „Werther“-Renaissance der letzten Jahre beigetragen haben, dürften die Hitzekurven des Wiener Publikums für Massenet noch einige Jahre nicht abflachen.
PETER DUSEK —