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Opernwelt 3/1987

Französisches in Wien

Wieder am Orte der Uraufführung
Massenets «Werther» mit Agnes Baltsa, José Carreras und Colin Davis an der Wiener Staatsoper

 

Claus Helmut Drese konnte sich nach seiner zweiten Wiener Staatsopern-Premiere bestätigen lassen, was er vermutlich lange wußte: daß man es den Wienern kaum jemals ganz recht machen kann. Zugleich konnte er viel — zum Teil widerwillige — Anerkennung dafür ernten, daß er einen Kompromiß gewagt und mit Anstand durchgeführt hat. «Werther» von Jules Massenet ist vor hundert Jahren in der Wiener Hofoper uraufgeführt worden, weil die Opéra Comique kurz vor der Pariser Uraufführung abgebrannt war. Sie wurde bis 1931 insgesamt 92 mal gespielt. Später nur noch in der Volksoper. Ein Direktor, der sich vorgenommen hat, Lücken im Repertoire zu füllen, der Verständnis hat für die Klagen der Opernfreunde, das gängige Repertoire werde immer kleiner, immer eintöniger, der obendrein noch über zwei Weltklasse-Stimmen wie die von Agnes Baltsa und José Carreras verfügen kann, der greift beinahe zwangsläufig zu. Auch wenn ihm nach der Premiere todsicher Zweifel entgegenschollen, ob dieses Werk unbedingt ins Repertoire gehöre.

Drese hat gespart, indem er Ausstattung und Inszenierung (von Pierluigi Samaritani) aus Paris übernahm. Das sind, trotz ihrer beträchtlichen Ausmaße, typische Reise-Dekorationen, die überall passen. So wie auch die Inszenierung auf vielfache Rollen-Umbesetzung gefaßt ist: Die Szene zeigt mit viel Geschmack Stimmungsmalerei und gibt damit eine optische Entsprechung zur Musik, ohne sich eine ganz neue Deutung abzuringen. Mochte also die szenische Komponente des Abends nicht besonders aufregend sein (in Wien spielt das, trotz vieler gegenseitiger Lippenbekenntnisse, keine große Rolle): Drese konnte im musikalischen Teil den Opernfreunden viel Gesprächsstoff liefern: Erstmals dirigierte Colin Davis in der Wiener Staatsoper, und Agnes Baltsa sang die Charlotte ebenso zum ersten Mal, wie die junge, vielversprechende Sopranistin Eva Lind ihre Schwester Sophie und Bernd Weikl den Albert. Und gerade die Lind und Weikl schnitten darstellerisch am besten ab, wo gesanglich fast durchweg eitel Wohlklang herrschte. Glücklicherweise ist ja der alte Streit um französische Goethe-Interpretationen in der Musik abgeklungen. Man genießt Gounods «Faust» ebenso wie Massenets «Werther», ohne ständig beim Weimarer Meister nachzuschlagen. Colin Davis machte den Opernfreunden klar, daß dies eine höchst delikate Musik zum Zuhören, daß die Zeit bis zum nicht allzu häufig auftretenden Ariengeschmetter keineswegs verloren ist. Hoffentlich bleibt die Produktion wenigstens so lange im Repertoire, bis die Stammgäste sich mehrmals davon überzeugen konnten.
Lothar Sträter
MASSENET:«Werther»Premiere am 3.12.86. Musikalische Leitung: Sir Colin Davis; Inszenierung, Bühnenbild und Kostüme Pierluigi Samartini; Choreinstudierung: Helmuth Froschauer. Solisten. José Carreras (Werther), Bernd Weikl (Albert), Peter Wimberger (Amtmann), Agnes Baltsa (Charlotte). Eva Lind (Sophie).