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Oper und Konzert, 2/1987

Werther

WIENER STAATSOPER

 

Ein Abend voll unendlich schöner Traurigkeit: poetisch zarte Bühnenbilder, bravouröse Sängerleistungen, ein Schmachten und Bangen im Verwirrspiel der Gefühle, dazu Musik voll verzehrender Leidenschaft in glühenden Farben dargeboten — Triumph der Empfindsamkeit. Und ein gerührtes Auditorium, den Tränen nahe...

Die stimmungsvollen Bühnenbilder und reichen Kostüme von Pierluigi Samaritani, der auch Regie führt, atmen den Duft schmerzlicher Liebe und tragischen Abschiedswehs. Frühlingspracht umgibt das Haus des Amtmannes, in dessen Garten jubelnde Kinder schaukeln und — reichlich früh — ein Weihnachtslied proben, während Charlotte ihnen Kuchen reicht. Durch einen grünen Laubengang kommt Werther, erblickt Lotte und gerät ins Schwärmen. Die Bekanntgabe ihrer baldigen Verlobung trifft ihn wie ein Keulenschlag. Der zweite Akt, ein Park in satten Herbstfarben, ist Schauplatz der Aussprache zwischen Albert, der Charlotte inzwischen geheiratet hat, und Werther. Sie weist ihn nach erneutem Liebesbekenntnis zurück, die Schwester zum Tanz begleiten mag er nicht. Tränen und Verzweiflung überschatten das bevorstehende Fest. Angst überkommt Charlotte, die am Weihnachtsabend Werthers Briefe liest. Bleich und verstört erscheint er selbst, die Freundin verweigert ihm den erhofften Kuß, doch bringt sie ihm — im Gegensatz zu Goethes Roman — selbst die von Werther erbetenen Pistolen, die Albert verwahrte. Während des Orchesterzwischenspiels sieht man Lotte vor Werthers Haus, sie sucht den Freund, den sie erschossen im jetzt winterlichen Garten, am Ort ihrer ersten gemeinsamen Begegnung, findet. Dem Sterbenden gesteht sie ihre Liebe und küßt ihn — bei Goethe schweigt sie, Werther stirbt allein — und während aus dem Haus fröhliche Kinder-Weihnachtslieder ertönen, bricht sie im Bewußtsein ihrer Mitschuld an dieser Tragödie zusammen.
Ein ideales Sängerensemble garantiert den Erfolg der von Leidenschaft durchglühten, romantisch-schwelgerischen Musik. José Carreras singt die Titelpartie voll Wärme und mit großem seelischen Engagement, läßt ein sublimes Piano erblühen und steigert sich mit Vehemenz und an die Grenzen gehender Hingabe in das Feuer lodernder Verzweiflung. Sein Spiel ist berührend. Charlotte (Agnes Baltsa) überzeugt durch große Ruhe und Schlichtheit in den sehr ebenmäßig geführten Phrasen, voll sanfter Passivität, aber mit einer Gefühlsinnigkeit, die jeden Ton zum Leuchten bringt. Der warme, volltönende Bariton Bernd Weikls als Albert straft den herzlosen Charakter der Figur Lügen, in den Nebenrollen fallen der freundlich-betuliche Amtmann (Peter Wimberger), sein Freund (Helmut Wildhaber), und die liebreizende Stimme Eva Linds als Sophie auf. Der Regisseur Samaritani mit dezenten Arrangements und behutsamer Personenführung hat leichtes Spiel.
Zum ersten Mal am Pult der Wiener Staatsoper: Sir Colin Davis. Schon das drängende Vorspiel als energiegeladener Auftakt verriet die neue, markante Handschrift. Ob sanfte Intermezzi, ob dramatische Ausbrüche — das Orchester modellierte mit Noblesse und Delikatesse den poetischen Erzählton des romantischen Werkes und sparte nicht mit herben Akzenten auf den Kulminationspunkten der Tragödie. Wie sagte doch Massenet anno 1882: „Man war bis zu einer selten vollendeten Darbietung gelangt, und mit seinem zärtlichen oder machtvollen Spiel folgte das Orchester in einem Maße den feinsten Nuancierungen der Singstimmen, daß ich mein Entzücken nicht mehr zurückhalten konnte.“ Diese Worte haben auch heute Gültigkeit. Dr. Irene-Marianne Kinne