Zum Inhalt/To index
 
 
 
 
Dezember 1975 - New York
Wie man hörte, soll die neue große Tenorentdeckung JOSÉ CARRERAS an der City Opera angeblich seine letzten Vorstellungen gesungen haben: eine von der Inszenierung (STEVE PRESNELL) her sehr atmosphärische, aber leider in Zeitlupentempo dirigierte (IMRE PALLO) „Bohème“ und eine von TITO CAPOBIANCO intelligent und stimmungsvoll angelegte „ Lucia di Lammermoor“, die von LUIGI MARTELLI temperamentvoll geleitet wurde. Carreras war in blendender Verfassung und verkörperte mit dem Elan seiner verzaubernden Jugend einen schwärmerischen Rodolfo und einen ebenso glaubhaften Edgardo. Sein tenorales Metall und sein betörendes Timbre ließen das Publikum in einen Taumel der Verzückung geraten, obwohl dies alles nicht darüber hinwegtäuschen sollte, daß er oft nicht mehr fähig ist, ein piano auszusingen. Hoffentlich muß er nicht für den Übermut der Jugend bald teuer bezahlen. Das stets zuverlässige Ensemble der City Opera war in beiden Aufführungen mehr als erfreulich. So überraschte die intelligente MARALIN NISKA mit einer sehr überzeugenden Mimi, die eigentlich nicht mehr ihr Fach ist. Wunderbar gelangen ihr, eingebettet in eine kluge Darstellung, bestrickende pianissimi. Ein überaus schön singender Marcello war RICHARD FREDRICKS. 

In der „Lucia“ hieß die Titelrollenträgerin PATRICIA BROOKS. Wahrscheinlich längst über den Zenit ihrer Karriere hinaus, wollte sie möglicherweise zu ihrem einwandfreien aber uninspirierten Gesang dem Publikum noch eine „Kleinigkeit“ dazuliefern. So fiel es ihr ein, Charlie Chaplin zu parodieren: sie zwinkerte ins Auditorium, ehe sie ihrem Bruder den Dolch entwendete, mit dem sie sich später auf der Schloßtreppe kämmte, ehe sie dem umstehenden Chor damit die Nasen abzuschneiden drohte. Kein Wunder, daß ihr Bruder Enrico (ausgezeichnet: ADIB FAHZAH) sie so schnell wie möglich loswerden wollte. Und ausgerechnet ihretwegen entleibte sich schließlich der sich von seinem Publikum mit Beifallsorkanen überschüttete José Carreras, den man bald im zwanzig Schritte weiter gelegenen Haus der Metropolitan wieder bejubeln wird.
Clauspeter Koscielny/Klaus Laskowski