Die Wiener Staatsoper
segelt wieder einmal auf Erfolgskurs. Ein interessanter Saisonstart, dann eine
umjubelte Japan-Tournee, gleichzeitig ein ausverkauftes Nurejew-Happening bei
Ballett-Wochen im verwaisten Haus am Ring: der Auftakt für die vorletzte
Spielzeit der Ära Egon Seefehlner hätte kaum besser sein können. Man ist
versucht anzunehmen, der Konkurrenzdruck, der von der sehr frühen Nominierung
Lorin Maazels zum Direktor ab Herbst 1982 ausgeht, wirkt sich zumindest für
die Schlußphase der laufenden Direktionszeit animierend aus. Immerhin spielte
man die derzeit wohl attraktivste Trumpfkarte aus, als man mit einer
glanzvollen „Lucia di Lammermoor“ die Spielzeit 1980/81 eröffnete (1. 9.
1980). Wobei EDITA GRUBEROVA einmal mehr das Publikum in Ekstase versetzte.
Und zwar nicht nur bei der konkurrenzlosen Stimmartistik der Wahnsinnsszene.
Die Koloratur-Sopranistin arbeitet an allen ihren Rollen ständig weiter, was
beispielsweise bedeutet, daß sie bereits bei ihrer Auftrittsarie und in den
anschließenden Ensembleszenen mit immer neuen Nuancen aufwartet, mit
Schwelltönen in den höchsten Lagen, mit fast verdihafter Kantilene
(Sextett!), die Begeisterung erreicht nun schon vor der Wahnsinnsszene
Siedegrade. Darüber hinaus hat sie jetzt schon renommierte Partner; JOSE
CARRERAS und LEO NUCCI gehören heute wohl beide zur absoluten Sängerelite.
Und dennoch haben sie alle Mühe, neben dieser Lucia bestehen zu können. Wobei
der spanische Tenor sogar gegen die Erinnerung an seinen Vorgänger Peter
Dvorsky ankämpfen muß. Denn in punkto Dramatik und attackierendem Glanz in
der Höhe ist der tschechische Hoffnungstenor seinem prominenten Kollegen über
weite Strecken tatsächlich überlegen. Die Phrasierungsfeinheiten, die
Carreras aber schließlich im Schlußbild anzubieten hat und der Schmelz seiner
Piano-Passagen: zu guter letzt war auch der Radames der Salzburger Karajan-,,Aida“
als Edgardo vielbejubelter Wiener Publikumsliebling. Und da auch mit Leo
Nucci, dem höhensicheren Kavaliers-Bariton, ein Spitzensänger zur Verfügung
stand, der die Erfolgsproduktion des Jahres 1978 gegenüber der
Premierenbesetzung (Manuguerra) aufwertete, wurde der erste Abend der neuen
Saison zum unvergeßlichen Belcanto-Fest. Wenn es einen offenen Wunsch gab,
dann bezog sich der einzig und allein auf den Dirigenten. Warum übernimmt
nicht wenigstens ein Wien-Routinier diese Produktion, etwa ein Berislav
Klobucar? (Einen Riccardo Muti oder Claudio Abbado hätte man ohnedies nur für
die Premiere anlocken können!) Diesmal versuchte ein GIANFRANCO MASINI sein
Glück. Da er durch eine Superbesetzung auf der Bühne „entlastet“ wurde, kam
er einigermaßen pannenfrei über die Runden, mehr allerdings auch nicht...
Drei Wochen später (am 20.
9. 1980) traf sich das Stammpublikum fast vollzählig wieder. Diesmal gab es
gar ein Gruberova-Rollendebüt, und wieder war Jose Carreras ihr Partner. Doch
Verdis ".La Traviata“ kam nicht an Eröffnungs„Lucia“ heran. Denn dazu
hätte es vermutlich einer längeren Probenzeit bedurft, und die waren
angeblich gerade in den Wochen vor der Abreise für das Japan-Gastspiel
unmöglich. Die OTTO SCHENK-"Traviata"-Version, die ganz auf die
Persönlichkeit von Ileana Cotrubas ausgerichtet ist, wollte nicht recht zum
Rollenbild der Violetta passen, wie es von EDITA GRUBEROVA gezeichnet wurde:
ein durch und durch unkompliziertes, gar nicht allürenhaftes Geschöpf, das
nur mit ihrem natürlichen Liebreiz aufwartet —diese Rollenauffassung ist
zweifellos eine Premiere wert. So konnte man sich über die Brillanz der
Trinklied-Szene und der großen Arie freuen, mußte zur Kenntnis nehmen, daß
die dramatischen Ausbrüche des zweiten Aktes der Stimmartistin Gruberova doch
noch ein wenig zu schaffen machen und konnte erst im vierten Akt jene
Schlichtheit der Gefühlswelt einer neuen Violetta auskosten, die in der Fin
de siecle-Stimmung der Schenk-Inszenierung ansonsten etwas deplaciert wirkte.
Das Publikum nahm es als Versprechen auf die Zukunft und überschüttete die
Gruberova ebenso mit Applaus wie den verträumt-schmachtenden Alfredo von JOSE
CARRERAS oder den etwas maniriert, aber stimmschön singenden Germont des
BERND WEIKL. Am Pult: neuerlich GIANFRANCO MASINI. Und wieder die gleiche
Frage: wann findet sich endlich ein gediegener „erster Kapellmeister“‘ der in
Wien für Kontinuität und Qualität des Repertoirealltags garantiert?
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