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Orpheus Nov/Dec 1980

SAISONERÖFFNUNG IN WIEN

Lucia di Lammermoor - La Traviata

von PETER DUSEK


Die Wiener Staatsoper segelt wieder einmal auf Erfolgskurs. Ein interessanter Saisonstart, dann eine umjubelte Japan-Tournee, gleichzeitig ein ausverkauftes Nurejew-Happening bei Ballett-Wochen im verwaisten Haus am Ring: der Auftakt für die vorletzte Spielzeit der Ära Egon Seefehlner hätte kaum besser sein können. Man ist versucht anzunehmen, der Konkurrenzdruck, der von der sehr frühen Nominierung Lorin Maazels zum Direktor ab Herbst 1982 ausgeht, wirkt sich zumindest für die Schlußphase der laufenden Direktionszeit animierend aus. Immerhin spielte man die derzeit wohl attraktivste Trumpfkarte aus, als man mit einer glanzvollen „Lucia di Lammermoor“ die Spielzeit 1980/81 eröffnete (1. 9. 1980). Wobei EDITA GRUBEROVA einmal mehr das Publikum in Ekstase versetzte. Und zwar nicht nur bei der konkurrenzlosen Stimmartistik der Wahnsinnsszene. Die Koloratur-Sopranistin arbeitet an allen ihren Rollen ständig weiter, was beispielsweise bedeutet, daß sie bereits bei ihrer Auftrittsarie und in den anschließenden Ensembleszenen mit immer neuen Nuancen aufwartet, mit Schwelltönen in den höchsten Lagen, mit fast verdihafter Kantilene (Sextett!), die Begeisterung erreicht nun schon vor der Wahnsinnsszene Siedegrade. Darüber hinaus hat sie jetzt schon renommierte Partner; JOSE CARRERAS und LEO NUCCI gehören heute wohl beide zur absoluten Sängerelite. Und dennoch haben sie alle Mühe, neben dieser Lucia bestehen zu können. Wobei der spanische Tenor sogar gegen die Erinnerung an seinen Vorgänger Peter Dvorsky ankämpfen muß. Denn in punkto Dramatik und attackierendem Glanz in der Höhe ist der tschechische Hoffnungstenor seinem prominenten Kollegen über weite Strecken tatsächlich überlegen. Die Phrasierungsfeinheiten, die Carreras aber schließlich im Schlußbild anzubieten hat und der Schmelz seiner Piano-Passagen: zu guter letzt war auch der Radames der Salzburger Karajan-,,Aida“ als Edgardo vielbejubelter Wiener Publikumsliebling. Und da auch mit Leo Nucci, dem höhensicheren Kavaliers-Bariton, ein Spitzensänger zur Verfügung stand, der die Erfolgsproduktion des Jahres 1978 gegenüber der Premierenbesetzung (Manuguerra) aufwertete, wurde der erste Abend der neuen Saison zum unvergeßlichen Belcanto-Fest. Wenn es einen offenen Wunsch gab, dann bezog sich der einzig und allein auf den Dirigenten. Warum übernimmt nicht wenigstens ein Wien-Routinier diese Produktion, etwa ein Berislav Klobucar? (Einen Riccardo Muti oder Claudio Abbado hätte man ohnedies nur für die Premiere anlocken können!) Diesmal versuchte ein GIANFRANCO MASINI sein Glück. Da er durch eine Superbesetzung auf der Bühne „entlastet“ wurde, kam er einigermaßen pannenfrei über die Runden, mehr allerdings auch nicht...
Drei Wochen später (am 20. 9. 1980) traf sich das Stammpublikum fast vollzählig wieder. Diesmal gab es gar ein Gruberova-Rollendebüt, und wieder war Jose Carreras ihr Partner. Doch Verdis ".La Traviata“ kam nicht an Eröffnungs„Lucia“ heran. Denn dazu hätte es vermutlich einer längeren Probenzeit bedurft, und die waren angeblich gerade in den Wochen vor der Abreise für das Japan-Gastspiel unmöglich. Die OTTO SCHENK-"Traviata"-Version, die ganz auf die Persönlichkeit von Ileana Cotrubas ausgerichtet ist, wollte nicht recht zum Rollenbild der Violetta passen, wie es von EDITA GRUBEROVA gezeichnet wurde: ein durch und durch unkompliziertes, gar nicht allürenhaftes Geschöpf, das nur mit ihrem natürlichen Liebreiz aufwartet —diese Rollenauffassung ist zweifellos eine Premiere wert. So konnte man sich über die Brillanz der Trinklied-Szene und der großen Arie freuen, mußte zur Kenntnis nehmen, daß die dramatischen Ausbrüche des zweiten Aktes der Stimmartistin Gruberova doch noch ein wenig zu schaffen machen und konnte erst im vierten Akt jene Schlichtheit der Gefühlswelt einer neuen Violetta auskosten, die in der Fin de siecle-Stimmung der Schenk-Inszenierung ansonsten etwas deplaciert wirkte. Das Publikum nahm es als Versprechen auf die Zukunft und überschüttete die Gruberova ebenso mit Applaus wie den verträumt-schmachtenden Alfredo von JOSE CARRERAS oder den etwas maniriert, aber stimmschön singenden Germont des BERND WEIKL. Am Pult: neuerlich GIANFRANCO MASINI. Und wieder die gleiche Frage: wann findet sich endlich ein gediegener „erster Kapellmeister“‘ der in Wien für Kontinuität und Qualität des Repertoirealltags garantiert?
 

KA